Page - 110 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
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110 | Piotr Filipkowski
Erzählung bei der Befreiung – eine ebenso häufige Praxis – baut eine biografische Di-
stanz von der anderen Seite auf. «Dort im Lager» hat nichts mehr mit dem Rest des
Lebens zu tunÂ
– das ist eine eigene Welt, mit nichts auf dieser Seite der Mauer oder des
Stacheldrahts vergleichbar. Lagererlebnisse, die als «Unterbrechung des Lebenslaufs»
erzählt werden, als wären sie aus der Biografie ausgeschlossen, stellen eine gesonderte
Narration dar, eine Art Gegen-Biografie. Gekennzeichnet ist sie durch gestreifte Sträf-
lingskleidung, noch stärker durch die Lagernummer. «Sie haben uns den Namen ge-
nommen und eine Nummer gegeben», «wir waren keine Menschen mehrÂ
– wir wurden
zu Nummern», «von da an waren wir bloße Nummern» – diese und ähnliche Sätze
sind ein fixer Bestandteil von Lagererinnerungen.
Das Mauthausen Survivors Documentation Project (MSDP) war ein Versuch, ĂĽber
diese Perspektive hinauszugehen. Als wir die Interviews mit den Ăśberlebenden auf-
zeichneten, baten wir sie, die Geschichte ihres Lebens zu erzählenÂ
– des ganzen Lebens.
Also all das, woran sie sich aus den verschiedenen Lebensphasen erinnerten, was sie
erzählen wollten und konnten. Ein narratives biografisches Interview, das heute in
verschiedenen Projekten der Oral History und bei biografischen Forschungen ange-
wendet wird, sollte die Erinnerung unserer Gesprächspartner aktivieren. Es sollte die
Erlebnisse des gesamten Lebens zurĂĽckrufen. Konkrete Fragen danach, was sie im La-
ger erlebt hatten und wessen Zeugen sie waren, kamen erst viel später, im weiteren
Gesprächsverlauf.
Unsere Gesprächspartner haben auf die offene Einladung zu einer autobiografischen
Erzählung unterschiedlich reagiert. Es gibt kein einheitliches Modell der Narration, die
auf diese Weise entstand. Aber es gibt Elemente, die der entschiedenen Mehrheit der
Berichte gemeinsam sind. Eines davon ist sicherlich die zentrale Bedeutung des Lagers
in der gesamten Erzählung, es ist das Schlüsselerlebnis (besser gesagt ein Erlebniskom-
plex) der Zeitzeugen. Aber dieses Erlebnis wird fast immer in einen breiteren Kontext
gestellt : den historischen, den sozialen – und den biografischen. Dieser letzte Aspekt
zeichnet sich besonders deutlich in den Berichten der Zeitzeugen ab. Ihre Erzählungen
vom Elternhaus, von der Kindheit, der Jugend, der Schule, dem Berufsleben, der Ehe,
aber auch vom Leben vor der Besatzung, manchmal von der Tätigkeit im Untergrund
und der Verfolgung vor dem Transport nach Mauthausen, zeichnen ein kompliziertes
Bild des Schicksals der polnischen Zeitzeugen in der Zeit vor dem Lageraufenthalt. Sie
bringen uns die Vielfalt der individuellen Wege nach Mauthausen näher – mittelbar
auch jener Wege, die dort endeten.
Die Kenntnis dieser Wege erlaubt uns einen anderen Blick auf die späteren Lager-
erlebnisse unserer Gesprächspartner – auch auf die Art ihrer Interpretation und die
Versuche, ihnen einen biografischen Sinn zu geben. In den Berichten hörten wir oft
den allgemein bekannten Satz, das Eintreffen im Lager habe bedeutet, dass der Mensch
sich in eine Nummer verwandelt habe, dass sein Lebenslauf unterbrochen worden sei,
die Regeln des sozialen Zusammenlebens aus der Zeit vor dem Lager aufgehoben wor-
den seien. Eine breitere biografische Perspektive steht dem nicht entgegen, aber sie
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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book Deportiert nach Mauthausen, Volume 2"
Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen