Page - 59 - in Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben - Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
Image of the Page - 59 -
Text of the Page - 59 -
© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 9783847111658 – ISBN E-Lib: 9783737011655
untermauert,wieesimAltenTestamentnurgeht“.80Dazukommt,„dassderVers
mitdemVerweisauf IsraelseigeneErfahrung[alsFremde]einenAppell andas
kollektiveGedächtnis darstellt. […] Indem Israel die nach innen gelebte Soli-
darität auch auf die Fremden ausdehnt, überwindet es seine nationalen
Schrankenundwird zu einer humanenund geschwisterlichenGesellschaft.“81
3. EinblinderFleck?
EinGebot der Fremdenliebe fehlt imNeuenTestament. Das heißt aber nicht,
seine LiebesethikwürdedenFremden ausklammern.Das gilt nicht einmal für
Texte, die weder von Liebe noch vom Fremden ausdrücklich sprechen. Die
Agapeethik der synoptischen Jesustradition orientiert sich trotz aller Unter-
schiede anderRezeptiondes alttestamentlichenLiebesgebots.DasLukasevan-
geliumzitiert nicht nurdasGebot derNächstenliebe imRahmendesDoppel-
gebots, sondern lässt Jesus auf die Frage eines Gesetzeslehrers „Wer ist mein
Nächster?“mitderBeispielerzählungvombarmherzigenSamariterantworten.
Dieser Samariter ist „dasUrbildderNächstenliebe“82.Was aberkaumbedacht
wird:DerSamariterweißsichderToraIsraelsundmit ihrauchdemGebotder
Fremdenliebe verpflichtet. Er erfüllt es an dem unter die Räuber gefallenen
Juden, der für ihn ein von Lev 19,34 gemeinter „Fremder“, nicht aber ein
„Ausländer“ ist. DieAnwendungdesGleichnisses liegt dannnicht darin, dass
grundsätzlichjederMenschderNächsteseinkann,sondernindemunbedingten
Anspruch,demjeweilsHilfsbedürftigenzumNächstenzuwerden(Lk10,36–37).
Allerdings sprichtderGesetzeskundigebeim„Nächsten“nicht vonLiebe, son-
dernvonBarmherzigkeit – er ist derjenige, „derbarmherzig an ihmgehandelt
hat“ (10,37). Denn „den Samariter kennzeichnet ein Hinsehen, das sich vom
Leidendesanderenanrühren lässtundausderEmpathieherauszurkonkreten
barmherzigenZuwendung führt.“83
BezeichnendfürJesuGesprächsführungist,dassderSchriftgelehrteselbstdie
AntwortenaufdieFragengibt:erzitiertdasDoppelgebotderLiebe(Vers27)und
bestimmt die Identität des Nächsten (Vers 37a). Jesus braucht ihn in beiden
80 ThomasSöding,Nächstenliebe.GottesGebotalsVerheißungundAnspruch,Freiburg i.Br.
2015, S. 70.
81 Kraljic,Deuteronomium,S. 410.
82 Söding,Nächstenliebe, S. 129, in derÜberschrift desKapitelsüberdenbarmherzigen Sa-
mariter (S. 129–144).
83 Matthias Konradt, Liebesgebot undChristusmimesis. Eine Skizze zur Pluralität neutesta-
mentlicher Agapeethik, in: Gabrielle Oberhänsli-Widmer / MichaelWelker (Hg.), Liebe,
Jahrbuch fürBiblischeTheologie29,Neukirchen-Vluyn2014,S. 65–98,hier: S. 70–71.Vgl.
Shimon Gesundheit, Die „Erfindung“ der Barmherzigkeit im Alten Israel. Biblische und
nachbiblischePerspektiven, in:BiblischeZeitschrift 63/2019,S. 289–306.
DerblindeFleck–dasGebot,denFremdenzu lieben 59
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Title
- Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
- Subtitle
- Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Authors
- Irene Klissenbauer
- Franz Gassner
- Petra Steinmair-Pösel
- Editor
- Peter G. Kirchschläger
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1165-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 722
- Category
- Recht und Politik