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Ein gewisser Ascetismus, wir sahen es, eine harte und heitere Entsagsamkeit
besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit,
insgleichen auch zu deren natĂĽrlichsten Folgen: so wird es von vornherein
nicht Wunder nehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen
nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist. Bei einer
ernsthaften historischen Nachrechnung erweist sich sogar das Band zwischen
asketischem Ideal und Philosophie als noch viel enger und strenger. Man
könnte sagen, dass erst am Gängelbande dieses Ideals die Philosophie
ĂĽberhaupt gelernt habe, ihre ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu
machen – ach, noch so ungeschickt, ach, mit noch so verdrossnen Mienen,
ach, so bereit, umzufallen und auf dem Bauch zu liegen, dieser kleine
schüchterne Tapps und Zärtling mit krummen Beinen! Es ist der Philosophie
anfangs ergangen wie allen guten Dingen, – sie hatten lange keinen Muth zu
sich selber, sie sahen sich immer um, ob ihnen Niemand zu HĂĽlfe kommen
wolle, mehr noch, sie fĂĽrchteten sich vor Allen, die ihnen zusahn. Man rechne
sich die einzelnen Triebe und Tugenden des Philosophen der Reihe nach vor –
seinen anzweifelnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen abwartenden
(»ephektischen«) Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden,
suchenden, wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb,
seinen Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen zu jedem
»sine ira et studio« –: hat man wohl schon begriffen, dass sie allesammt die
längste Zeit den ersten Forderungen der Moral und des Gewissens entgegen
giengen? (gar nicht zu reden von der VernunftĂĽberhaupt, welche noch Luther
Fraw KlĂĽglin die kluge Hur zu nennen liebte). Dass ein Philosoph, falls er
sich zum Bewusstsein gekommen wäre, sich geradezu als das leibhafte
»nitimur in vetitum« hätte fühlen müssen – und sich folglichhütete, »sich zu
fühlen«, sich zum Bewusstsein zu kommen?… Es steht, wie gesagt, nicht
anders mit allen guten Dingen, auf die wir heute stolz sind; selbst noch mit
dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes
Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist,
wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus: denn gerade die umgekehrten Dinge,
als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen
auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre
ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit HĂĽlfe der
Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-
Erfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer
angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz-
Gewebe der Ursächlichkeit – wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit
Ludwig dem Elften sagen »je combats l’universelle araignée« –; Hybris ist
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften