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Zur Genealogie der Moral
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9 Ein gewisser Ascetismus, wir sahen es, eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist. Bei einer ernsthaften historischen Nachrechnung erweist sich sogar das Band zwischen asketischem Ideal und Philosophie als noch viel enger und strenger. Man könnte sagen, dass erst am Gängelbande dieses Ideals die Philosophie überhaupt gelernt habe, ihre ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu machen – ach, noch so ungeschickt, ach, mit noch so verdrossnen Mienen, ach, so bereit, umzufallen und auf dem Bauch zu liegen, dieser kleine schüchterne Tapps und Zärtling mit krummen Beinen! Es ist der Philosophie anfangs ergangen wie allen guten Dingen, – sie hatten lange keinen Muth zu sich selber, sie sahen sich immer um, ob ihnen Niemand zu Hülfe kommen wolle, mehr noch, sie fürchteten sich vor Allen, die ihnen zusahn. Man rechne sich die einzelnen Triebe und Tugenden des Philosophen der Reihe nach vor – seinen anzweifelnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen abwartenden (»ephektischen«) Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden, suchenden, wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb, seinen Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen zu jedem »sine ira et studio« –: hat man wohl schon begriffen, dass sie allesammt die längste Zeit den ersten Forderungen der Moral und des Gewissens entgegen giengen? (gar nicht zu reden von der Vernunftüberhaupt, welche noch Luther Fraw Klüglin die kluge Hur zu nennen liebte). Dass ein Philosoph, falls er sich zum Bewusstsein gekommen wäre, sich geradezu als das leibhafte »nitimur in vetitum« hätte fühlen müssen – und sich folglichhütete, »sich zu fühlen«, sich zum Bewusstsein zu kommen?… Es steht, wie gesagt, nicht anders mit allen guten Dingen, auf die wir heute stolz sind; selbst noch mit dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus: denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur- Erfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz- Gewebe der Ursächlichkeit – wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem Elften sagen »je combats l’universelle araignée« –; Hybris ist
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Zur Genealogie der Moral
Titel
Zur Genealogie der Moral
Autor
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Datum
1887
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.0 cm
Seiten
148
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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