Web-Books
in the Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Geisteswissenschaften
Zur Genealogie der Moral
Page - 120 -
  • User
  • Version
    • full version
    • text only version
  • Language
    • Deutsch - German
    • English

Page - 120 - in Zur Genealogie der Moral

Image of the Page - 120 -

Image of the Page - 120 - in Zur Genealogie der Moral

Text of the Page - 120 -

17 Ist er aber eigentlich ein Arzt, dieser asketische Priester? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch selbst sich als »Heiland« fühlt, als »Heiland« verehren lässt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein, – das muss unsren grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben. Stellt man sich aber erst einmal in die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt und hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Bewunderung, was unter ihr Alles gesehn, gesucht und gefunden hat. Die Milderung des Leidens, das »Trösten« jeder Art, – das erweist sich als sein Genie selbst: wie erfinderisch hat er seine Tröster-Aufgabe verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu ihr die Mittel gewählt! Das Christenthum in Sonderheit dürfte man eine grosse Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Milderndes, Narkotisirendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlichstes und Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so fein, so raffinirt, so südländisch- raffinirt ist von ihm insbesondere errathen worden, mit was für Stimulanz- Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. Denn allgemein gesprochen: bei allen grossen Religionen handelte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung einer gewissen, zur Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere. Man kann es von vornherein als wahrscheinlich ansetzen, dass von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellen der Erde fast nothwendig ein physiologisches Hemmungsgefühl über breite Massen Herr werden muss, welches aber, aus Mangel an physiologischem Wissen, nicht als solches in’s Bewusstsein tritt, so dass dessen »Ursache«, dessen Remedur auch nur psychologisch-moralisch gesucht und versucht werden kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel für Das, was gemeinhin eine »Religion« genannt wird). Ein solches Hemmungsgefühl kann verschiedenster Abkunft sein: etwa als Folge der Kreuzung von zu fremdartigen Rassen (oder von Ständen – Stände drücken immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der europäische »Weltschmerz«, der »Pessimismus« des neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung); oder bedingt durch eine fehlerhafte Emigration – eine Rasse in ein Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien); oder die Nachwirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an); oder einer falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der Vegetarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph bei Shakespeare für sich haben); oder von Blutverderbniss, Malaria, Syphilis und dergleichen
back to the  book Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
Title
Zur Genealogie der Moral
Author
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Date
1887
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.0 cm
Pages
148
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
Web-Books
Library
Privacy
Imprint
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Zur Genealogie der Moral