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Ist er aber eigentlich ein Arzt, dieser asketische Priester? – Wir begriffen
schon, inwiefern es kaum erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er
auch selbst sich als »Heiland« fühlt, als »Heiland« verehren lässt. Nur das
Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, nicht deren
Ursache, nicht das eigentliche Kranksein, – das muss unsren
grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben. Stellt
man sich aber erst einmal in die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt
und hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Bewunderung, was unter
ihr Alles gesehn, gesucht und gefunden hat. Die Milderung des Leidens, das
»Trösten« jeder Art, – das erweist sich als sein Genie selbst: wie erfinderisch
hat er seine Tröster-Aufgabe verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu
ihr die Mittel gewählt! Das Christenthum in Sonderheit dürfte man eine
grosse Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Erquickliches,
Milderndes, Narkotisirendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlichstes und
Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so fein, so raffinirt, so südländisch-
raffinirt ist von ihm insbesondere errathen worden, mit was für Stimulanz-
Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, die schwarze
Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens für Zeiten besiegt
werden kann. Denn allgemein gesprochen: bei allen grossen Religionen
handelte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung einer gewissen, zur
Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere. Man kann es von vornherein
als wahrscheinlich ansetzen, dass von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellen der
Erde fast nothwendig ein physiologisches Hemmungsgefühl über breite
Massen Herr werden muss, welches aber, aus Mangel an physiologischem
Wissen, nicht als solches in’s Bewusstsein tritt, so dass dessen »Ursache«,
dessen Remedur auch nur psychologisch-moralisch gesucht und versucht
werden kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel für Das, was
gemeinhin eine »Religion« genannt wird). Ein solches Hemmungsgefühl kann
verschiedenster Abkunft sein: etwa als Folge der Kreuzung von zu
fremdartigen Rassen (oder von Ständen – Stände drücken immer auch
Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der europäische »Weltschmerz«, der
»Pessimismus« des neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer
unsinnig plötzlichen Stände-Mischung); oder bedingt durch eine fehlerhafte
Emigration – eine Rasse in ein Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft
nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien); oder die Nachwirkung von Alter
und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an); oder einer
falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der Vegetarians,
welche freilich die Autorität des Junker Christoph bei Shakespeare für sich
haben); oder von Blutverderbniss, Malaria, Syphilis und dergleichen
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Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften