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Zur Genealogie der Moral
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20 Aber man wird mich schon verstanden haben: – Grund genug, nicht wahr, Alles in Allem, dass wir Psychologen heutzutage einiges Misstrauen gegen uns selbst nicht los werden?… Wahrscheinlich sind auch wir noch »zu gut« für unser Handwerk, wahrscheinlich sind auch wir noch die Opfer, die Beute, die Kranken dieses vermoralisirten Zeitgeschmacks, so sehr wir uns auch als dessen Verächter fühlen, – wahrscheinlich inficirt er auch noch uns. Wovor warnte doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete? »Misstrauen wir vor Allem, meine Herrn, unsren ersten Regungen! sagte er, sie sind fast immer gut«… So sollte auch jeder Psycholog heute zu seines Gleichen reden… Und damit kommen wir zu unserm Problem zurück, das in der That von uns einige Strenge verlangt, einiges Misstrauen in Sonderheit gegen die »ersten Regungen«. Das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf Gefühls-Ausschweifung: – wer sich der vorigen Abhandlung erinnert, wird den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im Wesentlichen schon vorwegnehmen. Die menschliche Seele einmal aus allen ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste, Gluthen und Entzückungen derartig unterzutauchen, dass sie von allem Kleinen und Kleinlichen der Unlust, der Dumpfheit, der Verstimmung wie durch einen Blitzschlag loskommt: welche Wege führen zu diesem Ziele? Und welche von ihnen am sichersten?… Im Grunde haben alle grossen Affekte ein Vermögen dazu, vorausgesetzt, dass sie sich plötzlich entladen, Zorn, Furcht, Wollust, Rache, Hoffnung, Triumph, Verzweiflung, Grausamkeit; und wirklich hat der asketische Priester unbedenklich die ganze Meute wilder Hunde im Menschen in seinen Dienst genommen und bald diesen, bald jenen losgelassen, immer zu dem gleichen Zwecke, den Menschen aus der langsamen Traurigkeit aufzuwecken, seinen dumpfen Schmerz, sein zögerndes Elend für Zeiten wenigstens in die Flucht zu jagen, immer auch unter einer religiösen Interpretation und »Rechtfertigung«. Jede derartige Ausschweifung des Gefühls macht sich hinterdrein bezahlt, das versteht sich von selbst – sie macht den Kranken kränker –: und deshalb ist diese Art von Remeduren des Schmerzes, nach modernem Maasse gemessen, eine »schuldige« Art. Man muss jedoch, weil es die Billigkeit verlangt, um so mehr darauf bestehen, dass sie mit gutem Gewissen angewendet worden ist, dass der asketische Priester sie im tiefsten Glauben an ihre Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit verordnet hat, – und oft genug selbst vor dem Jammer, den er schuf, fast zerbrechend; insgleichen, dass die vehementen physiologischen Revanchen solcher Excesse, vielleicht sogar geistige Störungen, im Grunde dem ganzen Sinne dieser Art Medikation nicht eigentlich widersprechen: als welche, wie vorher gezeigt worden ist, nicht auf Heilung von Krankheiten, sondern auf
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Zur Genealogie der Moral
Title
Zur Genealogie der Moral
Author
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Date
1887
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.0 cm
Pages
148
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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