Seite - 128 - in Zur Genealogie der Moral
Bild der Seite - 128 -
Text der Seite - 128 -
20
Aber man wird mich schon verstanden haben: – Grund genug, nicht wahr,
Alles in Allem, dass wir Psychologen heutzutage einiges Misstrauen gegen
uns selbst nicht los werden?… Wahrscheinlich sind auch wir noch »zu gut«
für unser Handwerk, wahrscheinlich sind auch wir noch die Opfer, die Beute,
die Kranken dieses vermoralisirten Zeitgeschmacks, so sehr wir uns auch als
dessen Verächter fühlen, – wahrscheinlich inficirt er auch noch uns. Wovor
warnte doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete? »Misstrauen
wir vor Allem, meine Herrn, unsren ersten Regungen! sagte er, sie sind fast
immer gut«… So sollte auch jeder Psycholog heute zu seines Gleichen
reden… Und damit kommen wir zu unserm Problem zurück, das in der That
von uns einige Strenge verlangt, einiges Misstrauen in Sonderheit gegen die
»ersten Regungen«. Das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf
Gefühls-Ausschweifung: – wer sich der vorigen Abhandlung erinnert, wird
den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im
Wesentlichen schon vorwegnehmen. Die menschliche Seele einmal aus allen
ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste, Gluthen und Entzückungen
derartig unterzutauchen, dass sie von allem Kleinen und Kleinlichen der
Unlust, der Dumpfheit, der Verstimmung wie durch einen Blitzschlag
loskommt: welche Wege führen zu diesem Ziele? Und welche von ihnen am
sichersten?… Im Grunde haben alle grossen Affekte ein Vermögen dazu,
vorausgesetzt, dass sie sich plötzlich entladen, Zorn, Furcht, Wollust, Rache,
Hoffnung, Triumph, Verzweiflung, Grausamkeit; und wirklich hat der
asketische Priester unbedenklich die ganze Meute wilder Hunde im Menschen
in seinen Dienst genommen und bald diesen, bald jenen losgelassen, immer
zu dem gleichen Zwecke, den Menschen aus der langsamen Traurigkeit
aufzuwecken, seinen dumpfen Schmerz, sein zögerndes Elend für Zeiten
wenigstens in die Flucht zu jagen, immer auch unter einer religiösen
Interpretation und »Rechtfertigung«. Jede derartige Ausschweifung des
Gefühls macht sich hinterdrein bezahlt, das versteht sich von selbst – sie
macht den Kranken kränker –: und deshalb ist diese Art von Remeduren des
Schmerzes, nach modernem Maasse gemessen, eine »schuldige« Art. Man
muss jedoch, weil es die Billigkeit verlangt, um so mehr darauf bestehen, dass
sie mit gutem Gewissen angewendet worden ist, dass der asketische Priester
sie im tiefsten Glauben an ihre Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit verordnet
hat, – und oft genug selbst vor dem Jammer, den er schuf, fast zerbrechend;
insgleichen, dass die vehementen physiologischen Revanchen solcher
Excesse, vielleicht sogar geistige Störungen, im Grunde dem ganzen Sinne
dieser Art Medikation nicht eigentlich widersprechen: als welche, wie vorher
gezeigt worden ist, nicht auf Heilung von Krankheiten, sondern auf
zurück zum
Buch Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Titel
- Zur Genealogie der Moral
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1887
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 148
- Kategorie
- Geisteswissenschaften