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.26 ///. Die Staatstlieorien.
Schon beiA 1 1 h u s iu sundHugoGrotius findet sichder Gesellschafts-
vertrag vor; in denMittelpunkt der Staatslehre hat ihn erstThomasHobbes
gestellt^).Ohne den Staat, so lelirt er, würde die Selbstsucht der Menschen zu einem
Kampfe aller gegen alle führen. Dauernder Friede kann nur gesichert werden
durch einen Vertrag, der die Individuenvereinigtundeinem einheitlichen Herrscher-
willen unterwu-ft. So entsteht aus dem natürlichen der bürgerliche oder staatUche
Zustand. Die damit begründete Gewalt wäre nach Hobbes unbeschränkt, Auf-
lehnung dagegen Bruch des Grundvertrages. Die Vertragstheorie wird von zahl-
reichen späteren Naturrechtslehrern fortgeführt^) und von Rousseau in seiner
berühmten Schrift über den Gesellschaftsvertrag^) im Sinne der unmittelbaren
Demokratieumgebildet.Auch Rousseaugehtvondem vorstaatüchen Naturzustande
aus; dmch den Gesellschaftsvertrag unterwerfen sich die Menschen dem von der
Gesamtheit zu bildenden Willen; da im allgemeinen Willen der Wille
jedes einzelnen mit enthalten ist, so bleibe jeder sich selbst unterworfen
und die Freiheit gewahrt. Das Gesetz, das den Gemeinwillen zum Aus-
druck bringt, beruhe daher notwendigerweise auf einem Gesamtbeschluß
des souveränen Volkes; darnach wäre die unmittelbare Demokratie logisch
die einzig richtige Staatsform. Das Werk Rousseaus hat eine große politische
Wirkung ausgeübt; sein Einfluß wirkt in den Theorien der Volks-
^ouveränetät und des Rechtsstaates sowie in den darauf beruhenden
Verfassungseinrichtungen zahkeicher Staaten nach^).
Trotz ilu'er großen Wirkung leidet die Vertragstheorie an einem dreifachen
Fehler. Sie ist unlogisch, indem sie den Staat und seine positive Rechtsordnung
mit einem Vertrag, also mit einem Rechtsgeschäft begründet, dessen Wirksam-
keit voraussetzt, daß die Rechtsordnung bereits bestehe. Sie ist unhistorisch,
denn in Wkklichkeit ist kein Staat diu-ch einen Vertrag seiner Bürger geschaffen
worden. Sie verkennt endlich das Naturwüchsige am Staate, den ursprünghch
gesellschafthchen Charakter jener Bildungen, aus denen die Staaten sich all-
mählich entwickelt haben.
Der atomistischen Auffassung des Naturrechtes, wonach der Staat gleichsam
.ein von Menschen ausgedachter und willkürhch zusammengesetzter Mechanismus
wäre, setzt die historisch-konservative Schule die sogenannte organische
Staatslehre entgegen. Ihr ist der Staat ein ursprüngliches, naturwüchsiges
Gebilde, das ebenso wie Tier und Pflanze als Organismus bezeichnet wh'd, da seine
Teile nur in der Beziehung zum Ganzen bestehen und wissenschaftlich begriffen
sind P. J. P r ud h n („Qu'est-ce que la propriöte?" 1840) und Max Stirner
(Der Einzige und sein Eigentum 1844) zu nennen. Die anarchistische Partei ist durch den Russen
B a k u n i n gegen das Ende der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts gegründet worden.
— ^) Thomas Hobbes, De cive (1642), Lcviathan oder von dem Wesen, der Form und
•der Macht des geistlichen und bürgerlichen Staates (1651). — ^) Wir nennen insbesondere
Samuel Pufendorf (1632—1694), Christian Thomasius (1655—1728) und
'Christian Wolff (1619—1754). — ^) Jean Jacques Rousseau (geboren 1712
in Genf, gestorben 1778), Du contrat social ou principes du droit politique, • 1762. —
•*) Unter den Werken der deutschen Naturrechtsphilosophie sind insbesondere Immanuel
K a n t's Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre 1796 zu nennen. In der Schrift „Zum
«wigen Frieden", 1795, tritt Kant als Vorläufer der modernen Friedensbewegung auf.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918