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///. Die Staatstheorien. 27
werden können^). Es ist das Verdienst dieser Richtung, den Staat in die Zusammen-
hänge der gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklung hineingestellt zu
haben, welche das Naturrecht vernachlässigt hatte. Allein biologische Analogien—
und solche stecken ja hinter der Bezeichnung des Staates alsOrganismus—genügen
nicht, um das Wesen des Staates zu erklären.
Die moderne Theorie erklärt und rechtfertigtden Staat durch seineZwecke.
Wir haben den Staat im ersten Abschnitte als den obersten aller menschlichen
Verbände kennen gelernt. Jede Verbandsorganisation setzt aber Gewalt über die
Mitgheder des Verbandes und eine Rechtsordnung voraus, die den Willen der
Einzelnen im Interesse der Gesamtheit motiviert und beschränkt. Worin ist dieses
Gesamtinteresse gelegen und wie weit reicht es? Das sind die Fragen, welche die
Theorien über die Staatszwecke zu beantworten suchen. Zwei Richtungen lassen
sich hier unterscheiden: absolute und relative Zwecktheorien. Die einen stellen
gewisse absolute Zwecke auf, die jeder Staat zu erfüllen habe, wie auch immer er
im übrigen beschaffen sei. Die anderen machen die Staatszwecke abhängig von
dem jeweihgen Bewußtseinsinhalte, den Bedürfnissen und der Leistungsfähigkeit
des Staatsvollies, tragen also demEntwicklungsgedanken^) Rechnung.
Als absolute Staatszwecke sind zunächst die Verwhklichung des
Sittengesetze s^) oder religiöser Gebote*) aufgestellt worden. Hin-
gegen betrachtete der Polizeistaat des aufgeklärten Absolutismus dieW o h 1 f ah rt
der Einzelnen wie der Gesamtheit als seinoberstes ZieP); dahernahm er für sich das
Recht in Anspruch, alles vorzukelu-en, was ihm zur Erreichung dieses Zieles er-
forderlich dünkte. Die dadurch bedingten Eingriffe und Freiheitsbeschränkungen
veranlaßten die späteren Naturrechtslehrer die Staatszwecke einzuschränken, um
die Freiheit des Einzelnen dem Staate gegenüber zu begründen und zu befestigen.
Der Staat solle sich darauf beschränken, Sicherheit, Freiheit^) oder
Recht') zu gewährleisten, alles andere der freien Betätigung seiner Bürger über-
lassen. Die Grundlinien der liberalen Doktrin sind damit gezogen.
Die relativen Staatszwecke sind bedingt durch den jeweiligen
Stand der gesellschaftlichen, kulturellen und staatlichen Entwicklung. Davon
hängt es ab, welcheKollektivbedürfnisse der Staat aus demTätigkeitsbereiche der
Einzelnen und der freien gesellschaftlichenBildungen herausheben will, um sie als
seine eigenen Aufgaben anzuerkennen und zu befriedigen. Darin, daß es Aufgabe
1) Vergl. oben S. 17. — ^) Vergl. oben S. 17. — ») Das ist die antike Auffassung.
Als die höchste Form der objektiven SittUchkeit faßt G. W. Hegel (1770—1831) den
Staat in seinen GrundUnien der Philosophie des Rechtes (1821) auf. — *) Der reUgiöse
Beruf des Staates, von dem das Mittelalter durchdrungen war, wurde in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts neuerdings von den Vertretern der Restaurationspolitik betont. —
*) Als der angesehenste Systematiker der Wohlfahrtstheorie galt lange ZeitChristian Wo 1 f f
(1679—1754). Die Lehre von derVerwaltungstechnik des Polizeistaates bildet den Gegenstand der
sogenannten Polizeimssenschaften. Als ihre Hauptvertreter sind J u s t i und Sonnenfels
zu nennen.— «) Eine der frühesten und wichtigsten Schriften über das Wesen der durch das Gesetz
zu sichernden bürgerlichen Freiheit ist der zweite vonJohnLocke's (1632—1704)Two treatises
on Government, 1689. In seinen Briefen über Toleranz ist John Locke für religiöse und geistige
Freiheit eingetreten. Die geistige Seite dervom Staate zugewährenden Freiheitwurde insbesondere
auch von S p i n z a betont. — ') Am strengsten willKant in seiner Rechtslehre den Staat
darauf beschränken, die Rechtsordnung der gemeinsamen Freiheit herzustellen.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918