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X. Die AusMldung der Verfassung. 57
vorher dem österreichischen Reichsrate vorgelegt worden wären. Von der Ein-
berufung einer außerordentlichen Reichsversammhing, die nebst der Regelung des
Verhältnisses zu Ungarn auch einer Umbildung der österreichischen Verfassung
in föderaUstischer Richtung hätte dienen sollen, wurde Umgang genommen^).
An ilu-er Stelle trat imMai 1867 der ordentliche Reichsrat zusammen. Ihm gingen
die Gesetzentwürfe zu, welche die Neugestaltung des Verhältnisses zu Ungarn
erforderhch machte.
7. Die Dezemberverfassung.
Hand in Hand damit ging die Fortbildung des österreichischen Verfassungs-
rechtes. Das Notverordnungsrecht und die Ministerverantwortlichkeit wurden neu
geregelt. Dervom Abgeordnetenhause eingesetzte Verfassungsausschuß bescliränkte
sich nicht auf die Beratung der Regierungsvorlagen, sondern arbeitete vier weitere
Gesetzentwürfe zum Ausbau der Verfassung aus. So sind damals die fünf Staats-
grundgesetze (über die Abänderung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung,
über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, über die Einsetzung eines Reichs-
gerichtes, über dierichterliche Gewaltund über dieRegierungs- undVollzugsgewalt)
zustande gekommen. Sie erhielten gleichzeitig mit dem Gesetz über die allen
Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Ai't
ihrer Behandlungam 21. Dezember 1867 die kaiserhche Sanktion und bilden zu-
sammen mit diesem Gesetze die sogenannte Dezemberverfassun g-).
Die Dezemberverfassung bildet die Grundlage der gegenwärtigen staatsrecht-
lichen Gestaltung Österreichs, sowie seines Verhältnisses zu Ungarn. Aber sie hat
weder den österreichischenVerfassungsstreit beendet, noch dasVerhältnis zwischen
den beiden Gliedstaaten der Monarchie in allen Punkten endgültig geregelt. Die
Zuständigkeit der Landtage hat sie dadurch erweitert, daß sie den Wü'kungskreis
des Reichsrates durch eine erschöpfende (taxative) Aufzählung der ilmi zugehörigen
Gegenstände einschiänkt. Daß die wirtschaftlichen Beziehungen zuUngarn unddas
Wehi'system durch den Ausgleich von 1867 nicht dauernd festgelegt worden sind,
sondernnurnachgleichen, von ZeitzuZeitzuvereinbarendenGrundsätzenbehandelt
werden sollen, leistet den hauptsächüch von ungarischer Seite ausgehenden Be-
strebungen Vorschub, den durch die geschichtliche Entwickelung gegebenen und
durch die pohtischen Aufgaben der Gegenwart und Zukunft erforderten Verband
der Gesamtmonarchiedmch eine noch weitergehende ,,Unabhängigkeit" der GHed-
staaten zu lockern^).
FranzDeak,Wien 1888. Eine wichtige Rolle spielte dabeiauchderGraf Julius A n d r a s s y,
der 1867 ungarischer Ministerpräsident und 1871 Minister des Äußern wurde; vergl. E. v.We r t-
heimer, Graf Julius Andrassy, sein Leben und seine Zeit, I. Band, Stuttgart 1910.— ^) Der
"Umschwung ist hauptstächlich durch den damaligen Minister des Äußern, Friedrich Fer-
dinand Grafen von Beust herbeigeführt worden, der nach dem Sturze Belcredis (am
7. Februar 1867) Ministerpräsident wurde und späterhin dieWürde eines Reichskanzlers erhielt.
Beust veröffentlichte seine Lebenserinnerungen unter dem Titel ,,Aus drei Vierteljahrhanderten",
2 Bände. Stuttgart 1887. — ^) Eine gute Zusammenstellung der Gesetzgebungsmaterialien zur
Dezemberverfassung ist unter dem Titel ,,Die neue Gesetzgebung Österreichs", erläutertaus den
Reichsratsverhandlungen, Wien 1868 erschienen. Vergl. F. Schütz,„Das Werden und Wirken
des Bürgerministeriums". Leipzig 1909 und Leop. v. Hasner, „Denkwürdigkeiten",
Stuttgart 1892.— ^) Das Verhältnis Österreichs zu Ungarn und die staatsrechtliche Eigenart der
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918