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XVII. Der Konstitutionalismus. 85
das Mehrheitsprinzip leicht zur Unterdrückung der Minderheit führen. Daraus
entspringt das Problem des Minoritätenschutzes. Es besteht in der ebenso wichtigen
als schwierigen Frage, ob die Minderheiten bei Wahlen Gelegenheit zur Vertretung
erhalten und bei Abstimmungen vor Vergewaltigung geschützt werden sollen und
wie das zu bewirken sei.
5. Die Grundsätze des Wahlrechtes.
Die Grundlage des parlamentarischen Systems bildet das Wahlrecht. Es ist
die Form, in welcher die von derVerfassunghiezu berufenen Staatsbürger mittelbar
Einfluß auf die Willensbildung des Staates und der Selbstverwaltungskörper er-
langen: sie stimmen für die Kandidaten, derenProgramm ihnenam meisten zusagt.
Aber dieser Einfluß hängt von der Einrichtung des Wahlrechtes : von dem Wahl-
rechtssystem ab^).
Dem demokratischen Prinzip entspricht dasallgemeine, gleiche und
unmittelbare Wahlrecht. Es steht allen Männern zu, die ein gewisses
Alter erreicht haben, gibt jedem Wähler den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis
und läßt die Wähler selbst den Mann ihres Vertrauens bezeichnen; dieser wird also
nicht durch Wahlmänner bestellt oder aus einem zu andern Zwecken gebildeten
Kollegium entsendet.
Im Gegensatze dazu stehen die dem aristokratischen Prinzip entsprechenden
Einschränkungen des Wahlrechtes. Sie werden damit begründet, daß man nicht
beijedem das gleiche Interesseam Staateund das gleiche Verständnis für den Staat
voraussetzen dürfe. Daher soUe nicht jeder zur Wahl zugelassen werden oder doch
das Gewicht der Stimmen bei der Wahl nicht das gleiche sein.
Ein Mittel, um die Wähler nach Interessenla'eisen zu sondern und darnach die
Wirksamkeit der abgegebenen Stimmen abzustufen, bildet die sogenannte
Interessenvertretung. Darnach wird die Gesamtzahl derMandate auf ver-
schiedenesozialeoderwirtschaftliche Schichten odernach sonstigenGesichtspunkten
aufgeteilt ; die Angehörigen derselben oder die Körperschaften, in denen sie organi-
siert sind, bilden die WaUkörper. Sie sind also sicher, nicht etwa durch andere
Gruppen überstimmt zu werden, und auch die Zahl ihrerVertreter ist denZufällig-
keiten der Wahl entrückt. In der Zusammensetzung der so gebildeten Kammern
kommt nicht so sehr die allgemeine Stimmung derWählerschaft als wie vielmehr
die Bedeutung zum Ausdruck, die den einzelnen Wählerklassen bei der Auf-
teilung der Mandate zuerkannt worden ist. Nur innerhalb der Wählerklassen,
nichtim ganzen entscheidet die Mehrheit. Eine plutokratischeForm der Interessen-
vertretung stellen solche Wahlkörper dar, die nach der Steuerleistung derWähler
geschieden sind. Je nach der Aufteilung der Mandate auf die Wahlkörper erlangen
die größeren Steuerträger einen Einfluß auf das Wahlergebnis, derim umgekehrten
Verhältnisse zur Zahl der Wähler steht. Denn die Zahl der Personen, die zusammen
einen Abgeordneten wählen, ist desto geringer, je wohlhabender die Wähler, nach
der Steuerleistung zu schließen, sind. Aber auch bei einer im übrigen gleichartigen
Gestaltung des Wahlrechtes kann durch einen sogenannten Steuerzensus,
der das Wahlrecht an ein gewisses Mindestmaß direkter Steuern knüpft, die große
*) Georg Meyer, Das parlamentarische Wahkecht. Berlin 1901 ; A. M e n z e 1, Die
Systeme des Wahlrechtes. Wien 1905.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918