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Sechster Teil.
Die Staatsfunktionen.
XXXII. A. Die Gesetzgebung.
Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung haben wir im IV. Kapitel
als die drei Funktionen des Staates kennen gelernt. Mit diesen haben wir uns
nunmehr zu beschäftigen ; zunächst mit der Gesetzgebung. Sie steht an der Spitze,
denn sie regelt sowohl den Aufbau des Staates als auch seine beiden anderen
Funktionen, die Rechtsprechung durchaus, die Verwaltung doch überwiegend.
Das Wort Gesetzgebung wird in zweifachem Sinne gebraucht, in einem
materiellen und in einem formellen. Im materiellen Sinne bedeutet es
soviel wie Rechtsbüdung : die Aufstellung und Anordnung eines allgemein ver-
bindlichen Rechtssatzes. Durch die Gesetzgebung werden Regeln geschaffen,
welche die Untertanen und die Behörden verpflichten, mögen diese Regeln nun
auf viele FäUe oder vielleicht nur auf einen einzigen Fall anwendbar sein. Im
formellen Sinne bezeichnet man als Gesetzgebung jede Anordnung, die
von dem höchsten Organe des Staates ausgeht und „verfassungsmäßig" zustande
gekommen ist. Die formelle Seite des Gesetzesbegriffes konnte sich daher erst
nach dem Übergange zum Konstitutionalismus entwickeln. Der Gesetzes-
inhalt wird im konstitutionellen Staate durch das Parlament bestimmt. Aber
der G e s e t z e s b e f e h 1, der den Inhalt des Gesetzes zum staatlichen WiUen
erhebt und mit verbindlicher Kraft ausstattet, wird vom Monarchen erteilt; er
wird durch die S a nk t i o n des Gesetzes ausgesprochen. Nach konstitutionellem
Staatsrechte versteht man demnach unter einem Gesetze im formellen Sinne eine
Anordnung des Staatsoberhauptes, die unter Zustimmung des Parlamentes in
der durch dieVerfassung vorgeschriebenen Weise zustande gekommen, von einem
verantwortlichen Minister gegengezeichnet und gehörig kundgemacht ist.
Die Gesetzgebung im formellen Sinne deckt sich nicht mit der Gesetz-
gebung im materiellen Sinne. Denn Rechtsregeln können selbst im Ver-
fassungsstaate auch auf andere Weise aufgestellt werden als durch Gesetz. Sie
können auf Grund gesetzlicher Ermächtigung durch Verordnungen aus-
gesprochen oder durch Staatsverträge begründet werden. Verordnungen
und Staatsverträgekommendaherneben formellen Gesetzen als Quellen des öffent-
lichen Rechtes in Betracht. In Staaten mit ungeschriebener Verfassung werden
auch Gewohnheit und Herkommen als rechtsverbindlich anerkannt
doch ist die Frage des sogenannten Gewohnheitsrechtes in der Rechtswissen-
schaft viel umstritten. Andererseits enthalten nicht alle formellen Gesetze Rechts-
regeln; auch für wichtige Akte der Verwaltung ist die Form eines Gesetzes oder
eine gesetzliche Ermächtigung an die Regierung vorgeschrieben.
Vor allen anderen Quellen des Rechtes hat das Gesetz die auf dem Gesetzes-
befehl beruhende Gesetzeskraft voraus. Sie bindet die Staatsbehörden^)
1) Auch den Richter, denn das richterliche Prüfungsrecht erstreckt sich nur auf die gehörige
Kundmachung, nicht auf den Inhalt der Gesetze.
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book Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918