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718 Lesetext
MARQUIS (erhebt sich, schenkt ein und reicht es ihr.)
UNBEKANNTE Danke! (Sie trinkt aus.)
MARQUIS Hats geschmeckt?
UNBEKANNTE Sehr.
MARQUIS Das ist die Hauptsache – (Er setzt sich und lächelt irr.)
UNBEKANNTE (wird wieder unsicher.) Ich mag nämlich eigentlich keinen Alkohol.
(Stille)
MARQUIS (betrachtet sie.) Und Sie wollen die Unbekannte spielen?
UNBEKANNTE Ja.
(Stille)
MARQUIS (wie zuvor) Die war anders.
UNBEKANNTE (wird immer unsicherer.) Wenn ich mich anders frisiere –
MARQUIS Nein. Ich meine, da drinnen – (Er deutet auf sein Herz.)
UNBEKANNTE Das ist mein Fach.
(Stille)
MARQUIS (fixiert sie.) Schämen Sie sich nicht?
UNBEKANNTE Wieso?
(Stille)
UNBEKANNTE (sehr unsicher, möchte irgendetwas sagen.) Und –
MARQUIS (fällt ihr scharf ins Wort.) Und?! (Er erhebt sich und geht auf und ab.) Es
ist mir bewußt, daß ich leichtfertig annahm, Sie müßten alles wissen, was verbor-
gen bleiben sollte. Da ich mich aber nun mal in diese Situation manövriert habe,
wünsche ich keineswegs, daß sich die Legende auch meiner Person bemächtigt,
ich will eine verlorene Position nicht länger verteidigen und ziehe die Wahrheit
vor. Hören Sie: Vor einem Menschenalter arbeitete hier im Hause, in der Gärtne-
rei, ein Mädchen. Der alte Bientôt, über den Sie vorhin erschraken, war damals
noch keine Mumie. Er war ihr Chef– und der einzige unter der Dienerschaft, der
sie nicht immer prügelte, mit Worten, Blicken und sogar in der Tat. Sie hatte
keine Eltern, keine Freunde– niemand. Sie kam aus dem Heim zum guten Hirten.
UNBEKANNTE Ist das ein Waisenhaus?
MARQUIS Nein, das ist eine Korrektionsanstalt für verwahrloste weibliche Jugendli-
che. Die gesamte Dienerschaft, außer, wie gesagt, jene Mumie, fühlte sich durch
die Anwesenheit dieses Mädchens beleidigt, entehrt, beschimpft und gab es ihr
tausendmal kund. Aber sie trug jede Kränkung, allen Spott und Schimpf mit hei-
liger Geduld. Ich war überzeugt von ihrer absoluten Anständigkeit. Um ihre Pei-
niger zu beschämen, gab ich ihr eine Gelegenheit, ihre Ehrlichkeit beweisen zu
können: Ich sandte sie in die Stadt, eine größere Summe auf der Bank abzuholen.
Den ganzen Tag wartete ich. Sie kam erst spät in der Nacht, und– hatte das Geld
verloren. Erschüttert glaubte ich ihr kein Wort. Hier in diesem Raume, da, da
schrie ich es ihr ins Gesicht und jagte sie vor versammelter Dienerschaft aus dem
Hause. Dort ging sie hinaus. Ich werde ihren Blick nie vergessen, der mich traf.–
Eine halbe Stunde später kam ein braver Mann mit dem Geld, er hatte es im Ei-
senbahnabteil gefunden. Sie hatte es verloren.
(Stille)
MARQUIS Als ich dann jene Totenmaske erblickte, erkannte ich sie sofort. Ich und
Bientôt, sonst keiner– Denn keiner hatte sie im Leben jemals lächeln gesehen. Ja,
es ist das Lächeln eines Engels, das Lächeln der Unschuld. Und ich bin ihr Mör-
der.
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45 Das unbekannte Leben (in fünf Akten) Endfassung, emendiert
Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
Historisch-kritische Edition, Volume 2
- Title
- Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
- Subtitle
- Historisch-kritische Edition
- Volume
- 2
- Author
- Ödön von Horváth
- Editor
- Klaus Kastberger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-058470-7
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 610
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Das unbekannte Leben Mit dem Kopf durch die Wand
- Vorwort 333
- Lesetext 351
- Vorarbeit: Die Unbekannte der Seine 353
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in fünf Akten, emendiert) 675
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 735
- Mit dem Kopf durch die Wand. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 785
- Kommentar 829
- Chronologisches Verzeichnis 831
- Übersichtsgrafik 891
- Hertha Pauli: L’inconnue de la Seine 905
- Anhang 909
- Editionsprinzipien 911
- Siglen und Abkürzungen 920
- Literaturverzeichnis 923
- Inhalt (detailliert) 927