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762 Lesetext
Dritter Akt.
Das Arbeitszimmer im Palais des Marquis de Bresançon. Durch ein hohes Fenster im
Hintergrunde fällt der matte Schein einer Straßenlaterne auf den Schreibtisch.
Rechts führt eine etwas geöffnete Türe in die Bibliothek, links eine geschlossene in
das Schlafzimmer. Neben dem Fenster, fast schon in der Ecke, eine Tapetentüre. Alles
im Raum ist alt, einfach und wertvoll, mit einem Wort: kultiviert.
DerMARQUIS DE BRESANÇON kommt vom Filmball, er eilt sofort in sein Arbeitszim-
mer im ersten Stock und entledigt sich erst unterwegs seines Mantels, Schals und Hu-
tes, wobei ihm JEAN, sein dicker Diener, behilflich ist; dieser schaltet auch das Licht
ein, eine Lampe auf dem Schreibtisch, die aber genügend hell leuchtet, um den gan-
zen Raum erkennen zu können.
1. Auftritt.
MARQUIS, JEAN.
MARQUIS (tritt durch die Tapetentüre ein.) Haben Sie den Alten geweckt?
JEAN Sehr wohl, Herr Marquis! Er sitzt in der Bibliothek – (Er deutet auf die Türe
rechts.) Und die avisierte Dame ist auch bereits eingetroffen, ich habe sie unten in
den Salon geführt.
MARQUIS Lassen Sie sie warten, bis ich rufe.
JEAN Sehr wohl, Herr Marquis! (Er will ab.)
MARQUIS (als würde ihm plötzlich noch etwas einfallen) Und: Es wird noch ein ge-
wisser Herr Nevieux kommen, den führen Sie sofort zu mir.
JEAN Sofort! (Er verbeugt sich und ab durch die Tapetentüre mit Mantel, Schal und
Hut.)
2. Auftritt.
MARQUIS.
MARQUIS (steht kurze Zeit mitten im Raum und denkt vor sich hin; geht dann langsam
an seinen Schreibtisch, öffnet eine Lade, holt ein Notizbuch hervor und scheint
Zahlen zu addieren; unten im Parterre schlägt eine alte Uhr die dritte Stunde;
nun hält er das Büchlein in der Hand, als würde er es wiegen wollen – Plötzlich
zuckt er zusammen und lauscht: Durch die Stille dringt aus der Bibliothek leises
Schnarchen, das allerdings immer kräftiger wird; er muß unwillkürlich lächeln,
erhebt sich, geht an die etwas geöffnete Türe rechts, öffnet die ganz und ruft hin-
ein.) Bientôt! (Das Schnarchen bricht ab.) Komm!
3. Auftritt.
MARQUIS, BIENTÔT.
(BIENTÔT ist ein Greis, der sein ganzes Arbeitsleben über Gärtner im Hause Bresan-
çons war und nun das sogenannte Gnadenbrot ißt. Er taucht in der Türe rechts ver-
schlafen auf.)
MARQUIS (freundlich) Setz dich! Zigarre? (Er hält ihm ein Kistchen entgegen.)
BIENTÔT (setzt sich unfreundlich in einen breiten Lehnstuhl.) Nein. Ich pflege nachts
nicht zu rauchen, sondern zu schlafen. Oder zu trinken.
MARQUIS (deutet auf ein Tischchen.) Dort steht Cognac!
BIENTÔT Wo?(Er erhebt sich wieder, geht auf das Tischchen zu und schenkt sich ein.)
Seltsam! Ich hab zuvor grad von Cognac geträumt –
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45 Das unbekannte Leben (in vier Akten) Endfassung, emendiert
Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
Historisch-kritische Edition, Volume 2
- Title
- Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
- Subtitle
- Historisch-kritische Edition
- Volume
- 2
- Author
- Ödön von Horváth
- Editor
- Klaus Kastberger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-058470-7
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 610
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Das unbekannte Leben Mit dem Kopf durch die Wand
- Vorwort 333
- Lesetext 351
- Vorarbeit: Die Unbekannte der Seine 353
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in fünf Akten, emendiert) 675
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 735
- Mit dem Kopf durch die Wand. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 785
- Kommentar 829
- Chronologisches Verzeichnis 831
- Übersichtsgrafik 891
- Hertha Pauli: L’inconnue de la Seine 905
- Anhang 909
- Editionsprinzipien 911
- Siglen und Abkürzungen 920
- Literaturverzeichnis 923
- Inhalt (detailliert) 927