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814 Lesetext
sie nicht immer prügelte, mit Worten, Blicken und sogar in der Tat. Sie hatte
keine Eltern, keine Freunde– niemand. Sie kam aus dem Heim zum guten Hirten.
UNBEKANNTE Ist das ein Waisenhaus?
MARQUIS Nein, das ist eine Korrektionsanstalt für verwahrloste weibliche Jugendli-
che. Die gesamte Dienerschaft außer, wie gesagt, jene Mumie fühlte sich durch
die Anwesenheit dieses Mädchens beleidigt, entehrt, beschimpft und gab es ihr
tausendmal kund. Aber sie trug jede Kränkung, allen Spott und Schimpf mit hei-
liger Geduld. Ich war überzeugt von ihrer absoluten Anständigkeit. Um ihre Pei-
niger zu beschämen, gab ich ihr eine Gelegenheit, ihre Ehrlichkeit beweisen zu
können: Ich sandte sie in die Stadt, eine größere Summe auf der Bank abzuholen.
Den ganzen Tag wartete ich. Sie kam erst spät in der Nacht und– hatte das Geld
verloren. Erschüttert glaubte ich ihr kein Wort. Hier in diesem Raume, da, da
schrie ich es ihr ins Gesicht und jagte sie vor versammelter Dienerschaft aus dem
Hause. Dort ging sie hinaus. Ich werde ihren Blick nie vergessen, der mich traf.–
Eine halbe Stunde später kam ein braver Mann mit dem Geld, er hatte es im Ei-
senbahnabteil gefunden. Sie hatte es verloren.
(Stille)
MARQUIS Als ich dann jene Totenmaske erblickte, erkannte ich sie sofort. Ich und
Bientôt, sonst keiner– Denn keiner hatte sie im Leben jemals lächeln gesehen. Ja,
es ist das Lächeln eines Engels, das Lächeln der Unschuld. Und ich bin ihr Mör-
der.
UNBEKANNTE (entsetzt) Nein!!
MARQUIS Doch!
UNBEKANNTE (wie zuvor) Sie sind doch kein Mörder, das seh ich Ihnen an!
MARQUIS (scharf) Was sehen Sie mir an, was wissen Sie von mir?! Was wissen Sie
von Ihrem Geliebten, Ihren Eltern, Freunden, Bekannten?! Nichts! Sie kennen
die Fassade eines Hauses, vielleicht einige Zimmer, das ist alles! Decken Sie die
Dächer ab: Welche Verbrechen würden Sie entdecken! Hier! (Er reicht ihr hastig
aus seiner Brieftasche einen vergilbten Brief.) Lesen Sie ihren Abschiedsbrief!
Ihr letztes Wort, das sie mir gab – – Lesen Sie!
UNBEKANNTE (liest den Brief und legt ihn dann langsam auf den Schreibtisch.) Die
Schrift gefällt mir nicht –
MARQUIS (faßt sich ans Herz.) Ich muß Sie bitten, in einem anderen Ton über dieses
Wesen zu sprechen, das mein Schicksal geworden ist. Ich bitte um Ehrfurcht. –
So, nun gehen Sie hin, und drehen Sie Ihren Film!
UNBEKANNTE (schluchzt.)
MARQUIS (horcht auf und ändert den Ton; fast sanft) Was ist Ihnen?
UNBEKANNTE (fährt sich mit dem Taschentuch an die Augen; sehr leise) Ich weiß es
nicht. Vielleicht, weil Sie mich für etwas Schlechtes halten –
(Stille)
MARQUIS Verzeihen Sie einem alten Mann –
UNBEKANNTE (weinend) Lächerlich! Sie sind doch kein alter Mann!
MARQUIS (horcht wieder auf.)
UNBEKANNTE (ängstlich) Darf ich jetzt gehen?
(Es klopft auf die Tapetentüre.)
MARQUIS (zuckt zusammen.) Herein!
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45 Mit dem Kopf durch die Wand Endfassung, emendiert
Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
Historisch-kritische Edition, Volume 2
- Title
- Wiener Ausgabe sämtlicher Werke
- Subtitle
- Historisch-kritische Edition
- Volume
- 2
- Author
- Ödön von Horváth
- Editor
- Klaus Kastberger
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-058470-7
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 610
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Das unbekannte Leben Mit dem Kopf durch die Wand
- Vorwort 333
- Lesetext 351
- Vorarbeit: Die Unbekannte der Seine 353
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in fünf Akten, emendiert) 675
- Das unbekannte Leben. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 735
- Mit dem Kopf durch die Wand. Komödie (Endfassung in vier Akten, emendiert) 785
- Kommentar 829
- Chronologisches Verzeichnis 831
- Übersichtsgrafik 891
- Hertha Pauli: L’inconnue de la Seine 905
- Anhang 909
- Editionsprinzipien 911
- Siglen und Abkürzungen 920
- Literaturverzeichnis 923
- Inhalt (detailliert) 927