Page - 37 - in Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Image of the Page - 37 -
Text of the Page - 37 -
Eingeblendete NS-Opfernarrativeâ â
37
kann (Abb. 5). Ob dies an dem verbotenen Hören des Feindsenders liegt oder
daran, dass die zuvor noch genossene Musik von einem jĂŒdischen Komponisten
stammt, bleibt unklar. Offensichtlich wird im vierten Panel der Seite allerdings,
dass die auditive GrenzĂŒberschreitung Erich an seine Pflichten als Hitlerjunge
erinnert, weshalb er vor dem Spiegel seine Uniform richtet â eine Art Selbstkon-
trolle. WÀhrend der Junge sich selbst hier versteinert ins Auge blickt, lÀchelt er
in einem vorherigen Parallelpanel seinem uniformierten Spiegelbild zu (Abb. 4).
Unentschieden bleibt im Vergleich, worauf die physiognomische VerÀnderung
zurĂŒckzufĂŒhren ist â auf den Schock, dass wegen der ideologischen Verbote
nunmehr der Experimentiererfolg und seine FrĂŒchte hinfĂ€llig sind, oder auf
einen Quasi-Lauschangriff aus dem Ausland. Wenn Erich spÀter von gleichaltri-
gen Kameraden gefragt wird, wie es um sein Radio steht, verkĂŒndet er kurz und
bĂŒndig: âDas ist kaputt.â Bemerkenswert ist hierbei der Hintergrund, der leere
Schaufensterauslagen mit Aufschriften wie âJud verreckeâ unter einem David-
stern zeigt, worauf Erich Àngstlich zu blicken scheint (Abb. 6). Damit liegt in
dieser Episode eine aufschlussreiche Latenz vor, die hier die UnzuverlÀssigkeit
der Familienerinnerung markiert. So weist Kalina KupczyĆska darauf hin, dass
âMendelssohn in England vor dem Krieg als protestantischer Komponist bekannt
und gefeiert [wurde]â (2013, 196). Die betreffende Episode bezieht sich allerdings
auf die 1930er Jahre.15 Das fĂŒr den im Nationalsozialismus aufgewachsenen Erich
Hoven einschneidende Erlebnis widerspricht hier nicht den historischen Tat-
sachen, um die groĂvĂ€terliche Erinnerung als falsche aufzudecken oder sogar
anzuklagen, sondern um grundsÀtzlich zeitliche Verschiebungen, Fehler und
UnzuverlÀssigkeiten beim Erinnern einzurÀumen.16 Auf einer Metaebene wird
damit auch reflektiert, dass gerade in der postmemorialen Erinnerung an das
groĂelterliche Leben im Nationalsozialismus TĂ€ter- und Opferschaft nicht immer
eindeutig zu trennen sind. So kann Erichs Radio-Episode ebenso auf eine Schutz-
behauptung zurĂŒckgehen, womit der GroĂvater seinen âkleinenâ Widerstand als
Junge rĂŒhmt und die Indoktrinierung der Jugend anklagt. Ebenso gut kann sich
aber hinter dem âjĂŒdischen Lauschangriffâ eine ideologische Zustimmung verber-
gen, wie sie in der Hitlerjugend gelernt wurde. Entsprechend deuten auf mögli-
cherweise unbeliebte Themen in der Familiengeschichte explizite Auslassungen
15â Auch Andreas Platthaus merkt an: âErst spĂ€ter, im Krieg, stellte die BBC auf Propaganda
um und betonte bewusst in den Sendungen fĂŒr Deutschland die jĂŒdische Abstammung groĂer
KĂŒnstlerâ (2009, 6).
16â Ăhnlich unterstreicht KupczyĆska: âDas PhĂ€nomen des Vergessens reflektiert man hier als
einen genuinen Bestandteil der Erinnerungsprozesse und als einen Faktor der Konstituierung
des GedĂ€chtnissesâ (2013, 197).
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Title
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Editor
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 350
- Keywords
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Category
- LehrbĂŒcher