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Eingeblendete NS-Opfernarrative
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kann (Abb. 5). Ob dies an dem verbotenen Hören des Feindsenders liegt oder
daran, dass die zuvor noch genossene Musik von einem jüdischen Komponisten
stammt, bleibt unklar. Offensichtlich wird im vierten Panel der Seite allerdings,
dass die auditive Grenzüberschreitung Erich an seine Pflichten als Hitlerjunge
erinnert, weshalb er vor dem Spiegel seine Uniform richtet – eine Art Selbstkon-
trolle. Während der Junge sich selbst hier versteinert ins Auge blickt, lächelt er
in einem vorherigen Parallelpanel seinem uniformierten Spiegelbild zu (Abb. 4).
Unentschieden bleibt im Vergleich, worauf die physiognomische Veränderung
zurückzuführen ist – auf den Schock, dass wegen der ideologischen Verbote
nunmehr der Experimentiererfolg und seine Früchte hinfällig sind, oder auf
einen Quasi-Lauschangriff aus dem Ausland. Wenn Erich später von gleichaltri-
gen Kameraden gefragt wird, wie es um sein Radio steht, verkündet er kurz und
bündig: „Das ist kaputt.“ Bemerkenswert ist hierbei der Hintergrund, der leere
Schaufensterauslagen mit Aufschriften wie „Jud verrecke“ unter einem David-
stern zeigt, worauf Erich ängstlich zu blicken scheint (Abb. 6). Damit liegt in
dieser Episode eine aufschlussreiche Latenz vor, die hier die Unzuverlässigkeit
der Familienerinnerung markiert. So weist Kalina Kupczyńska darauf hin, dass
„Mendelssohn in England vor dem Krieg als protestantischer Komponist bekannt
und gefeiert [wurde]“ (2013, 196). Die betreffende Episode bezieht sich allerdings
auf die 1930er Jahre.15 Das für den im Nationalsozialismus aufgewachsenen Erich
Hoven einschneidende Erlebnis widerspricht hier nicht den historischen Tat-
sachen, um die großväterliche Erinnerung als falsche aufzudecken oder sogar
anzuklagen, sondern um grundsätzlich zeitliche Verschiebungen, Fehler und
Unzuverlässigkeiten beim Erinnern einzuräumen.16 Auf einer Metaebene wird
damit auch reflektiert, dass gerade in der postmemorialen Erinnerung an das
großelterliche Leben im Nationalsozialismus Täter- und Opferschaft nicht immer
eindeutig zu trennen sind. So kann Erichs Radio-Episode ebenso auf eine Schutz-
behauptung zurückgehen, womit der Großvater seinen ‚kleinen‘ Widerstand als
Junge rühmt und die Indoktrinierung der Jugend anklagt. Ebenso gut kann sich
aber hinter dem ‚jüdischen Lauschangriff‘ eine ideologische Zustimmung verber-
gen, wie sie in der Hitlerjugend gelernt wurde. Entsprechend deuten auf mögli-
cherweise unbeliebte Themen in der Familiengeschichte explizite Auslassungen
15 Auch Andreas Platthaus merkt an: „Erst später, im Krieg, stellte die BBC auf Propaganda
um und betonte bewusst in den Sendungen für Deutschland die jüdische Abstammung großer
Künstler“ (2009, 6).
16 Ähnlich unterstreicht Kupczyńska: „Das Phänomen des Vergessens reflektiert man hier als
einen genuinen Bestandteil der Erinnerungsprozesse und als einen Faktor der Konstituierung
des Gedächtnisses“ (2013, 197).
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher