Web-Books
in the Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
LehrbĂŒcher
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Page - 85 -
  • User
  • Version
    • full version
    • text only version
  • Language
    • Deutsch - German
    • English

Page - 85 - in Opfernarrative in transnationalen Kontexten

Image of the Page - 85 -

Image of the Page - 85 - in Opfernarrative in transnationalen Kontexten

Text of the Page - 85 -

Die Geschichte des/der Anderen    85 schwinden lĂ€sst, geschieht mit Hilfe von verschiedenen Erinnerungs trĂ€gern – Notizen, Briefen, Nazirequisiten und Familienfotos –, die es Ardi erlauben, eine verdrĂ€ngte Geschichte wieder lesbar zu machen. Der Student rekonstruiert mitnichten nur die persönliche Nazi-Vergangenheit von Sohalt, ermöglicht doch das Aufeinanderkopieren der Zeitschichten, Orte und Ereig nisse eine imaginierte Zeugenschaft, die ĂŒber die grausamsten Verbrechen der Nationalsozialisten zu berichten weiß: Ich marschierte mit ihm [Herrn Sohalt] von Wien nach Linz, von dort zum alten Steinbruch Wiener Graben, von dort zum Bettelberg, stieg dort aus, ging von Stein zu Stein, von Holz- baracke zu Holzbaracke, dabei kein gestreiftes HĂ€ftlingskleid, kein Gesicht und keinen Koffer außer Acht lassend, bis mir das Wort Sonderbehandlung gelĂ€ufig war. (GS, 171) Die Fotografien, die Sohalt einmal im KZ Mauthausen, ein anderes Mal an der Ostfront mit Wehrmachtssoldaten oder gerade bei der Enteignung jĂŒdischen Eigentums zeigen, erlauben dem Studenten, den alten Herrn als NS-Funk tionĂ€r zu identifizieren, der mitsamt seiner Familie tief in Kriegsverbrechen verwickelt war. Aber auch andere Bilder von gefolterten russischen Gefan genen sowie von Ermordeten und bei Bombenangriffen Umgekommenen in den Wiener Straßen werfen die Frage nach Sohalts tatsĂ€chlicher Rolle im NS-System auf. Diese Fotos bleiben insofern Leerstellen, als weder Ardi noch die LeserInnen erfahren, zu welchem Zweck und fĂŒr wen Sohalt die Bilder gemacht hat und warum er sie besitzt. Da die TĂ€ter*innen schweigen, können die historischen ZusammenhĂ€nge nicht mehr vollstĂ€ndig rekonstruiert werden. Ersichtlich werden die Diskrepanzen mehrheitsösterreichischer Erinne rung in der Wiener Stiftskirche, in der Ardi eines Tages die „Gedenktafel fĂŒr die Gefal- lenen der Weltkriege“ entdeckt (GS, 91). WĂ€hrend darauf Soldaten, Majore und GenerĂ€le als heldenhafte Verteidiger der Heimat verehrt werden, sind die namen- losen Opfer der NS-Verbrechen aus öffentlichen Orten des Gedenkens getilgt. Ihre Spuren kann Ardi lediglich in solchen Nicht-Orten der Erinnerung (non- lieux de mĂ©moire14) wiederfinden, die zwar unauffĂ€llig, aber „unbestechlich“ (GS, 90) sind, und die mit kaum vernehmbarer Stimme eine andere Geschichte der Stadt flĂŒstern. Die Pflastersteine und alten WĂ€nde Wiens,15 die voneinander weit 14  Der Begriff non-lieux de mĂ©moire ist ein Wortspiel, das Pierre Nora’s Terminus des GedĂ€cht- nisortes (lieu de mĂ©moire) aufgreift, jedoch im negativen Sinne. Es handelt sich um Erinnerungs- orte, die aus dem GedĂ€chtnis verschwunden sind bzw. die vergessen oder verdrĂ€ngt wurden. Zur Verwendung des Begriffs vgl. David et al. 1999. 15  Vlasta (2016, 206–212) untersucht eingehend die Funktion dieses GedĂ€chtnisses der Objekte (memory of things).
back to the  book Opfernarrative in transnationalen Kontexten"
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Title
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Editor
Eva Binder
Christof Diem
Miriam Finkelstein
Sieglinde Klettenhammer
Birgit Mertz-Baumgartner
Marijana Miloơević
Publisher
De Gruyter Open Ltd
Date
2020
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-11-069346-1
Size
15.5 x 23.0 cm
Pages
350
Keywords
Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
Category
LehrbĂŒcher
Web-Books
Library
Privacy
Imprint
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Opfernarrative in transnationalen Kontexten