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Die Geschichte des/der Anderen
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schwinden lässt, geschieht mit Hilfe von verschiedenen Erinnerungs trägern
– Notizen, Briefen, Nazirequisiten und Familienfotos –, die es Ardi erlauben,
eine verdrängte Geschichte wieder lesbar zu machen. Der Student rekonstruiert
mitnichten nur die persönliche Nazi-Vergangenheit von Sohalt, ermöglicht doch
das Aufeinanderkopieren der Zeitschichten, Orte und Ereig
nisse eine imaginierte
Zeugenschaft, die über die grausamsten Verbrechen der Nationalsozialisten zu
berichten weiß:
Ich marschierte mit ihm [Herrn Sohalt] von Wien nach Linz, von dort zum alten Steinbruch
Wiener Graben, von dort zum Bettelberg, stieg dort aus, ging von Stein zu Stein, von Holz-
baracke zu Holzbaracke, dabei kein gestreiftes Häftlingskleid, kein Gesicht und keinen
Koffer außer Acht lassend, bis mir das Wort Sonderbehandlung geläufig war. (GS, 171)
Die Fotografien, die Sohalt einmal im KZ Mauthausen, ein anderes Mal an der
Ostfront mit Wehrmachtssoldaten oder gerade bei der Enteignung jüdischen
Eigentums zeigen, erlauben dem Studenten, den alten Herrn als NS-Funk tionär
zu identifizieren, der mitsamt seiner Familie tief in Kriegsverbrechen verwickelt
war. Aber auch andere Bilder von gefolterten russischen Gefan
genen sowie von
Ermordeten und bei Bombenangriffen Umgekommenen in den Wiener Straßen
werfen die Frage nach Sohalts tatsächlicher Rolle im NS-System auf. Diese Fotos
bleiben insofern Leerstellen, als weder Ardi noch die LeserInnen erfahren, zu
welchem Zweck und für wen Sohalt die Bilder gemacht hat und warum er sie
besitzt. Da die Täter*innen schweigen, können die historischen Zusammenhänge
nicht mehr vollständig rekonstruiert werden.
Ersichtlich werden die Diskrepanzen mehrheitsösterreichischer Erinne
rung
in der Wiener Stiftskirche, in der Ardi eines Tages die „Gedenktafel für die Gefal-
lenen der Weltkriege“ entdeckt (GS, 91). Während darauf Soldaten, Majore und
Generäle als heldenhafte Verteidiger der Heimat verehrt werden, sind die namen-
losen Opfer der NS-Verbrechen aus öffentlichen Orten des Gedenkens getilgt.
Ihre Spuren kann Ardi lediglich in solchen Nicht-Orten der Erinnerung (non-
lieux de mémoire14) wiederfinden, die zwar unauffällig, aber „unbestechlich“ (GS,
90) sind, und die mit kaum vernehmbarer Stimme eine andere Geschichte der
Stadt flüstern. Die Pflastersteine und alten Wände Wiens,15 die voneinander weit
14 Der Begriff non-lieux de mémoire ist ein Wortspiel, das Pierre Nora’s Terminus des Gedächt-
nisortes (lieu de mémoire) aufgreift, jedoch im negativen Sinne. Es handelt sich um Erinnerungs-
orte, die aus dem Gedächtnis verschwunden sind bzw. die vergessen oder verdrängt wurden. Zur
Verwendung des Begriffs vgl. David et al. 1999.
15 Vlasta (2016, 206–212) untersucht eingehend die Funktion dieses Gedächtnisses der Objekte
(memory of things).
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher