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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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102    Anna Brod Ich war in der TĂŒrkei mit meiner Tochter, dann kam ein Anruf: „Habil hastanede, almanya’ya dönmelisin dediler.“ („Habil liegt im Krankenhaus, du musst sofort nach Deutschland kommen.“) Ich konnte mir nicht vorstellen, was so Schlimmes passiert sein soll, ich dachte an einen Unfall oder sowas, niemals, dass er tot sein könnte. Ich bin gleich am nĂ€chsten Tag zurĂŒck, meine Eltern haben mich am Flughafen empfangen, meine Freundin war auch dabei, alle weinten. „Ist er tot?“ Meine Freundin hat mich in ihrem Auto mitgenommen. Dann hat sie in einer ruhigen Minute gesagt: „Evet, Habil vefat etti, polise gitmelisin.“ („Ja, Habil ist gestorben. Du musst zur Polizei.“). (Umpfenbach und Mortazavi 2016, 15–16) An dieser Stelle endet die Replik der Figur – womöglich ein Ergebnis der Bear- beitungen fĂŒr den Theatertext. Die EmotionalitĂ€t der Passage wird somit nicht expliziert, sondern muss bei der Rezeption ergĂ€nzt werden. Deutlich wird an diesem Textbeispiel auch, dass bei der Bearbeitung des bei den Interviews gesammelten umfangreichen Materials durch Umpfen bach, Mortazavi und die Dramaturgin Andrea Koschwitz der konzeptionell mĂŒndliche Charakter der Texte erhalten geblieben ist, da die „OriginalsĂ€tze aus dem Inter- viewmaterial“ (Koschwitz 2016, 7) verwendet wurden. Durch diese sprachliche Form, die auf den Ursprung des dokumentarischen Materials zurĂŒckgeht und den Theatertext beispielsweise von den zwar ebenfalls auf Interviews beruhenden, aber sprachlich bearbeiteten Erinnerungsberichten in Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen unterscheidet (John 2014a, 26), entsteht der Eindruck von Unmit- telbarkeit, und es wird die EmotionalitĂ€t des ErzĂ€hlten transportiert, obwohl Emotionen selten konkret benannt oder beschrieben werden. Den grĂ¶ĂŸten Anteil im StĂŒck haben Äußerungen, die sich auf den Umgang der Mord-Ermittler*innen mit den Angehörigen beziehen und in denen Erfahrun- gen von institutionellem Rassismus ausgedrĂŒckt werden: Ich war mindestens 20-mal bei der Polizei, jedes Mal bringen sie ein Glas Wasser, „Finger- abdrĂŒcke!“ „DrĂŒcken Sie hier.“ „Aber warum?“ Ein- oder zweimal o.  k., aber warum zehn- oder zwanzigmal? [
] Einmal ist meine Enkelin vorgeladen worden. Ein zehnjĂ€hriges Kind. [
] Meine Enkelin fragte: „Omi, was heißt denn DNA? Glauben die, dass ich meinen Papa umgebracht habe?“ [
] Plötzlich ist der Mann sehr unverschĂ€mt geworden. Ich vergesse das bis ans Ende meines Lebens nicht. Er hat die Mappe genommen und Bumm! Ich habe gedacht, er haut die auf meinen Kopf. Das war die Mordkommission  
 ‚nett‘ können Sie vergessen. (Umpfenbach und Mortazavi 2016, 24) Statt also – befreit vom Vorwurf der Verstrickung in die Morde und aus der Posi- tion der belegten eigenen Unschuld heraus – vor allem die persönliche Trauer um die Ermordeten zu artikulieren, stellen sich die Angehörigen in Urteile auch selbst als Opfer von institutionellem Rassismus dar.
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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Title
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Editor
Eva Binder
Christof Diem
Miriam Finkelstein
Sieglinde Klettenhammer
Birgit Mertz-Baumgartner
Marijana Miloơević
Publisher
De Gruyter Open Ltd
Date
2020
Language
German
License
CC BY 4.0
ISBN
978-3-11-069346-1
Size
15.5 x 23.0 cm
Pages
350
Keywords
Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
Category
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