Page - 29 - in Land der Verheißung – Ort der Zuflucht - Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
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Nationsbildung in „Erez Israel“ fand dort besonders großen Zuspruch. Im Glauben,
dass die Emanzipationsgesetzgebung niemals Realität werden würde, wandten sich
zahlreiche Jüdinnen und Juden von den einstigen Akkulturationsabsichten ab und
gründeten ab den 1880er Jahren in vielen Städten Russlands eigene Zirkel, die sie
„Chibbat Zion“49 oder „Chowewe Zion“50 nannten. Die „Zionssehnsucht“ hatte aber
nicht erst das 19.
Jahrhundert hervorgebracht, sondern war dem Judentum seit dem
Verlust der Staatlichkeit und dem Beginn der Diaspora innewohnend. Durch die
Pogrome im Osten (1881/82) wurden die Inhalte der Erneuerungsbewegung und
die Kolonisationsideen stärker rezipiert und erweitert.
Die Enttäuschung über die gescheiterte Emanzipation und ausgebliebene voll-
ständige Anerkennung, die ungelöste Identitätskrise sowie der kontinuierlich
zunehmende Antisemitismus gaben der am Ende des 19. Jahrhunderts entstan-
denen nationaljüdischen und zionistischen Bewegung Aufwind. Während erstere
nationale Autonomie und Minderheitenrechte in den Diaspora-Ländern forderte,
propagierten Anhängerinnen und Anhänger des Zionismus den Aufbau eines jüdi-
schen Staates und die Abwanderung der jüdischen Diaspora dorthin. Gemeinsam
war den Bewegungen das Selbstverständnis einer politisch-kulturellen Erneue-
rungsbewegung und eines Gegenentwurfs zum gescheiterten Konzept der umfas-
senden Angleichung an die Umgebungsgesellschaft und -kultur.
Zionistische Ideen wurden sowohl von religiösen als auch von säkularen Gelehr-
ten formuliert. Revolutionäres forderte erstmals der deutsch-jüdische Frühsozialist
Moses Hess (1812–1875), der bereits 1861 in seiner Schrift „Rom und Jerusalem“
jede Möglichkeit der Assimilation negierte, da „der Jude im Exil, der seine Natio-
nalität verleugnet, nicht die Achtung der Nationen gewinnen [wird], in deren Mitte
er wohl als Staatsbürger naturalisiert, aber nicht der Solidarität mit seiner Nation
enthoben werden kann.“51 Die „jüdische Volksmasse“ beschrieb er als Schicksals-
gemeinschaft, die von jedem Mitglied uneingeschränkte Solidarität verlangte: „Der
Jude [kann sich] gleichviel, ob orthodox oder nicht, der Aufgabe nicht entziehen, für
die Erhebung des Gesamtjudentums mitzuwirken.
– Jeder Jude, selbst der getaufte,
haftet solidarisch für die Wiedergeburt Israels.“52 Das langfristige Ziel sollte ein
von den europäischen Großmächten (Hess favorisierte Frankreich) protegierter
jüdischer Staat sein, wobei ein „gemeinsamer heimatlicher Boden“53 am wichtigsten
wäre.
Auf größere Resonanz stieß das unter dem Eindruck der Pogrome im Zarenreich
entstandene und anonym publizierte Programm des Arztes Leon Pinsker (1821–
1891). In der für den Frühzionismus bedeutsamen Flugschrift „Autoemanzipation!
Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden“ appellierte er an
die Jüdinnen und Juden, die vergeblichen Assimilationsbemühungen zu verwerfen
und sich selbst zu emanzipieren. Diese Forderung würde, da die Juden als „hetero-
49 Hebr.: „Zionsliebende“.
50 Hebr.: „Zionsfreunde“.
51 Moses Hess, Rom und Jerusalem (1861). In: Schoeps, Zionismus, S. 53.
52 Ebda., S. 57.
53 Petry, Palästina, S. 44.
Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Title
- Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
- Subtitle
- Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Author
- Victoria Kumar
- Publisher
- Studienverlag Ges.m.b.H.
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7065-5419-0
- Size
- 15.6 x 23.4 cm
- Pages
- 216
- Keywords
- Palestine/Israel, Aliyah/Zionism, Jewish history of Austria, National Socialism in Austria, Palästina/Israel, Alijah/Zionismus, Jüdische Geschichte Österreichs, Nationalsozialismus in Österreich
- Categories
- Geschichte Nach 1918