Page - 93 - in Land der Verheißung – Ort der Zuflucht - Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
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im Yishuv erstaunlich hoch – auf allen wichtigen Gebieten übten Vertreterinnen
und Vertreter dieser Einwandergruppe einen spürbaren Einfluss aus. Neben der
Medizin, Industrie, Architektur etc. war es insbesondere der landwirtschaftliche
Bereich, der von der Erfahrung und den Kenntnissen der deutschen Jüdinnen und
Juden profitierte. Abgesehen vom Know-how wirkte sich auch das in erster Linie
durch das Haavara-Transfer-Abkommen mitgebrachte Privatkapital äußerst positiv
auf die sozio-ökonomische Entwicklung des Yishuvs aus (siehe unten).243
In Anbetracht des Nutzens, den die jüdische Bevölkerung in Palästina aus der
deutschen Alijah ziehen konnte, wäre die Annahme naheliegend, dass deren Vertre-
terinnen und Vertreter wohlwollend aufgenommen wurden
– gerade dieser Einwan-
derergruppe aber stand der Yishuv mit Vorbehalt und Ablehnung gegenüber, was
die weitläufig bekannte und viel zitierte Frage „Kommen Sie aus Überzeugung oder
aus Deutschland?“244 verdeutlicht. Nicht der zionistischen Ideologie wegen, sondern
erst als es die politische Situation in der ehemaligen Heimat erforderlich machte,
nicht als Zionistinnen und Zionisten, sondern als Flüchtlinge waren sie ins Land
gekommen, lautete der grundsätzliche Vorwurf.245 Hinzu kam, dass „der deutsche
Einwanderer“ der 1930er Jahre dem jüdischen Ideal eines körperlich arbeitenden,
kämpferischen Pioniers in der Regel alles andere als entsprach und vergleichsweise
große Schwierigkeiten hatte, sich in die von osteuropäischen Jüdinnen und Juden
und orientalischen Einflüssen geprägte Gesellschaft Palästinas zu integrieren. Der
Konflikt zwischen den Repräsentantinnen und Repräsentanten der zionistischen
Pioniergeneration und den nachkommenden Einwanderinnen und Einwanderern
wäre nach Gerda Luft allein schon deshalb vorprogrammiert gewesen, weil erstere
die Lebensbedingungen an dem maßen, was vor zwanzig Jahren war, letztere die
Verhältnisse hingegen mit jenen verglichen, die sie gerade verlassen hatten.246
243 Weitz, Yishuv, S. 135 f.
244 Die Phrase existiert in der Literatur in unterschiedlichen Varianten (z. B. in der Du-Form).
245 In einem 1934 im Mitteilungsblatt der HOA veröffentlichten Artikel verweist der Autor auf den Un-
terschied zwischen „Emigranten“ und „Olim“ und warnt vor einer „Absonderung“ der deutschen
Immigrantinnen und Immigranten in Palästina: „Es ist das erste Mal, dass Palästina eine große
Einwanderung von Menschen aufzunehmen hat, die bisher allem Zionistischen, allem Palästinen-
sischem, allem Jüdischem fremd waren und nicht aus positiv jüdischen Motiven nach Palästina
gekommen sind. […] Das Problem lässt sich in einem Satz zusammenfassen: ein großer Teil der
deutschen Einwanderer sind Emigranten, keine Olim. Sie sind Emigranten, die Deutschland verlas-
sen mussten und sich aus irgendwelchen Gründen (Prosperity, Familienbeziehungen) entschlossen
haben, nicht nach Paris oder Prag, sondern nach Palästina zu gehen. Sie bilden eine Emigranten-
kolonie in den drei Städten des Landes und führen das Leben fort, das sie in Berlin oder anderen
Städten Deutschlands geführt haben. Sie wollen Geschäft, Bequemlichkeit, Vergnügungen, wollen
ihre deutsche Zeitung lesen und stehen dem öffentlichen Leben dieses Landes ebenso gegenüber,
wie sie in Wahrheit dem öffentlichen Leben Deutschlands gegenüber gestanden haben, auch wenn
sie sich, subjektiv ehrlich, als begeisterte Deutsche empfanden. Sie haben in Deutschland nicht
gelernt. Sie haben nicht gelernt, dass ihre Instinktlosigkeit gegenüber dem, was in Deutschland
vorging, die Katastrophe hat über sie hereinbrechen lassen. Sie verstehen nicht, dass sie in Palästina
keinesfalls wiederum sich vom Leben der einzigen Gemeinschaft absondern können, zu der sie
durch Blut und Schicksal gehören, von der jüdischen. […].“ Fritz Löwenstein, Emigranten und
Olim. In: Mitteilungsblatt der HOA. November 1934 (II) S. 9–11.
246 Luft, Heimkehr, S. 35.
Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Title
- Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
- Subtitle
- Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Author
- Victoria Kumar
- Publisher
- Studienverlag Ges.m.b.H.
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7065-5419-0
- Size
- 15.6 x 23.4 cm
- Pages
- 216
- Keywords
- Palestine/Israel, Aliyah/Zionism, Jewish history of Austria, National Socialism in Austria, Palästina/Israel, Alijah/Zionismus, Jüdische Geschichte Österreichs, Nationalsozialismus in Österreich
- Categories
- Geschichte Nach 1918