Page - 144 - in Land der Verheißung – Ort der Zuflucht - Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
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Aufnahmestaaten ihre Einwanderungsbestimmungen noch einmal verschärft. Nach
der Einschätzung des „Council for German Jewry“ stellten sich die Möglichkeiten
für die jüdische Bevölkerung Österreichs Mitte 1939 folgendermaßen dar: Monat-
lich könnten 1.000 Personen in die USA emigrieren, weitere 1.000 nach England,
700 nach Südamerika, Australien und in andere Überseeländer, 500 in europäi-
sche Staaten und weitere 500 nach Palästina. Die maximal mögliche Auswanderung
wurde demnach mit 3.700 Personen beziffert, der gegenwärtige Emigrationsdrang
wäre aber doppelt so groß.403 Von einer Vielzahl an österreichischen Jüdinnen und
Juden (auch Nichtzionistinnen und -zionisten) wurde Palästina zu diesem Zeitpunkt
erstmals überhaupt als Fluchtoption in Betracht gezogen. Die wenigen an Österreich
zugeteilten Einwanderungszertifikate stellten die Emigrantinnen und Emigranten
allerdings vor ein nahezu unüberbrückbares Hindernis. Noch im Mai 1938 hatte
die Leitung des Palästina-Amtes in der Mitteilung über die Wiedereröffnung der
zionistischen Büros bei der Einwanderungsabteilung der Jewish Agency gegen die
Anzahl an Immigrationsbewilligungen, die, obwohl die jüdische Bevölkerung der
deutschen Gebiete bevorzugt behandelt wurden, völlig unzureichend waren, pro-
testiert. Das erforderliche Minimum wurde zu diesem Zeitpunkt mit 5.000 Zertifi-
katen festgelegt, wobei jene für die Jugend-Alijah, für Schüler und Studenten darin
nicht inkludiert waren. Wenngleich diese Forderung seitens der Jewish Agency als
realistisch eingeschätzt wurde, hieß es im Antwortschreiben, dass bei den damals
vorliegenden Bedingungen eine Alijah in diesem Ausmaß leider noch nicht in Frage
käme. Trotz kontinuierlicher Verhandlungen mit der britischen Regierung könnte
Österreich von den insgesamt 650 Arbeiterzertifikaten der aktuellen Schedule nur
rund 90, vom Kontingent für „Vatikim“404 ca. 50 erhalten. Eine größere Menge an
Einwanderungsgenehmigungen könnte allein aus der „Kapitalisten“-Kategorie
abgezweigt werden.405 Noch bevor das Schreiben in Wien ankam, setzte das Paläs-
tina-Amt eine neuerliche Protestnote auf, da Gerüchte über den Verteilungsschlüs-
sel der neuen Schedule Anlass zu Sorge und Empörung gegeben hatten. Wie die
Zahlen belegen würden, stünde die Quote in keinem Verhältnis zum ungeheuren
Auswanderungsdrang der Jüdinnen und Juden in Österreich: Mit den 3.000 bereits
vor dem Machtwechsel angemeldeten und den 5.000 neu registrierten Personen
verzeichnete das Amt im Mai insgesamt rund 8.000 Bewerberinnen und Bewerber
aller Kategorien. Für die kommenden Wochen würde erwartet werden, dass die
Gesamtzahl der Anmeldungen auf 20.000 ansteigen würde.406 Auch wenn die Regis-
trierungen vielleicht etwas zu hoch beziffert wurden, wird die Diskrepanz zwischen
vorhandenen und benötigten Immigrationsgenehmigungen allein durch die oben
angegebenen Mitgliederzahlen der zionistischen Organisationen deutlich. Als erste
Reaktion hob die Jewish Agency die Quoten für Kinder und Jugendliche sowie
Familienangehörige von österreichischen Einwanderinnen und Einwanderern an.
403 Council for German Jewry, Report on a Visit to Vienna, 17. 8. 1939. JDC Archives, Collection
1933/1944, File 442. Ich bedanke mich bei Gabriele Anderl für das Überlassen einer Kopie.
404 Hebr.: „Altzionisten“.
405 Palästina-Amt an Jewish Agency, 11. 5. 1938; Jewish Agency an Palästina-Amt, 26. 5. 1938. CZA,
S6/3691.
406 Palästina-Amt an Jewish Agency, 20. 5. 1938, CZA, S6/3691.
Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Title
- Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
- Subtitle
- Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Author
- Victoria Kumar
- Publisher
- Studienverlag Ges.m.b.H.
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7065-5419-0
- Size
- 15.6 x 23.4 cm
- Pages
- 216
- Keywords
- Palestine/Israel, Aliyah/Zionism, Jewish history of Austria, National Socialism in Austria, Palästina/Israel, Alijah/Zionismus, Jüdische Geschichte Österreichs, Nationalsozialismus in Österreich
- Categories
- Geschichte Nach 1918