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Idiotismen und Idiotika. 27,
vergessen wird und ihrer vielleicht selbst vergißt, bleibendes Eigenthum
des Volkes. Auf diese Art wächst der Volksgesang täglich heran, nie-
mahls ist da ein Stillstehen sichtbar, der Großvater überliefert dem En»
kel seine Lieder und Weisen, der sie dann,^ vermehrt mit seinen eigenen,
wieder vererbt. Am gewöhnlichsten sind in Osterreich die, zur Improvisa-
tion besonders tüchtigen vierzeiligen Lied- oder Tanzweisen nach folgen-
der stereotypen Form:
Vom Wald bin i fiara^
Wo d'Sunn so schön scheint.
Und mein Schab is ma liaba^
Als all' meine Frsund,
durch deren Pflege sich besonders Se id l in seinen Flinserln sehr verdient
gemacht hat. Übrigens gibt es noch viele alte Lieder, in verschiedenem
Versmaße und nach verschiedenen Weisen, die längst in den Saft und das
Blut des Volkes übergegangen sind, und in dieser Hinsicht haben Zis ka
(Tschischkä) und Schottky durch ihre Sammlung osterr. Volkslie-
der mit ihren Singweisen unstreitig ausgezeichnetes Verdienst. Der
Geist dieser Lieder selbst ist ein sehr froher, alles neigt sich zur Lebens-
lust Und zum Scherze hin, und sehr wahr sagt Castell i in dieser Bezie-
hung : „Der Österreicher, absonderlich dep Wiener, ist ein geborner
Spaßmacher, schon sein Dialect eignet ihn vorzüglich dazu. Wer die
gemeine Volksclasse in Wien studirt hat, weiß, welcher Fond von
Witz in diesen Menschen liegt, und die Comunität der Fiaker, Schlosser-
und Schusterjungen in Wien sagt und singt in einem Tage mehrSvaß-
haftes, als alle hochgerühmten Spaßvögel des Nordens zusammenge-
nommen," und weiter: „bey der Verfassung meiner osterr. Gedichte,
bey denen ich versucht habe, zu zeigen, daß der osterr. Dialect auch selbst
zum Vortrage des Rührenden geeignet sey, ist mir nichts schwerer gewor^
den, als den Scherz zu vermeiden, der sich durch Wendung und Reim
im osterr. Dialecte so sehr, selbst wider Willen, aufdrmgt." Doch leuch-
tet bey alledem überall dabey die Gutmüthigkeit und das Natürliche hell
durch und auch zartere Empsindungen fehlen nicht, so sind besonders dis
verliebten Gstanzeln grö'ßtentheils sehr gemüthlich und in dieser Hin-
sicht hat ebenfalls Seid l viel geleistet. Eine allerdings sehr zu beach-
tende Erscheinung ist, daß Deutschlands östlicher Theil fast nur allein
diese lebensfrohen Töne in seinen Liedern trägt, während es im Westen
und auch nördlich in Molltönen von Grab und Tod und unendlichem
Schmerze klingt; wohl mögen wir den Grund davon der günstigeren
Lage und dem leichteren Erwerbe zuschreiben, das dem der Sonne naber
Wohnenden das Herz zur Freude stimmt. Die Sprache und der Volks-
gesang im sogenannten Kuhländchen, oder in den Thalebenen der Oder
um Fulnek, Odrau, Kunewald , Neutitsch ein und Wag-
stadt an der schlesischen Gränze äußern sich durch eigenthümliche Kraft,
tiefe Fülle des Klanges, und durch Kürze in der Wortbildung, gleich-
wohl ermangeln sie nicht einer gewissen Weichheit und eines männlichen
Wohlklanges, deren sich das Hochdeutsche nicht immer zu erfreuen hat;
Im Ganzen hat diese Mundart etwas mit der Oberrheinischen gemein,
und veranlaßte deßhalb M eine rt, die Bewohner des Kuhlandchens für
Österreichische National-Enzyklopädie
Buchstabe I-M, Volume 3
- Title
- Österreichische National-Enzyklopädie
- Subtitle
- Buchstabe I-M
- Volume
- 3
- Authors
- Franz Gräffer
- Johann Czikann
- Publisher
- H. Strauß
- Location
- Wien
- Date
- 1835
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 13.3 x 22.0 cm
- Pages
- 768
- Keywords
- Nachschlagewerk, Biografien
- Categories
- Lexika National-Enzyklopädie