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Rausch der Verwandlung
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Page - 10 - in Rausch der Verwandlung

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Schäferstunde in einem neueingerichteten Absteigequartier. Ohne weitere Einleitung, toll vor Zorn, feuerte sie geradewegs auf die Ehestörerin zwei Schüsse, von denen einer fehlging und der andere den Oberarm traf. Die Verletzung erwies sich zwar als gänzlich unernst, sehr peinlich dagegen die üblichen Begleiterscheinungen: herbeieilende Nachbarn, laute Hilferufe durch zerschlagene Fenster, aufgesprengte Türen, Ohnmachten und Szenen, Ärzte, Polizei, Tatbestandsaufnahmen und hinter allem, scheinbar unvermeidlich, die Gerichtsverhandlung, wegen des Skandals gleichgefürchtet von allen Beteiligten. Glücklicherweise gibt es für reiche Leute nicht nur in Wien, sondern überall gerissene Anwälte, geübt im Verdunkeln ärgerlicher Affairen, und ihr erprobter Meister, der Justizrat Karplus, bog sofort der Angelegenheit die drohende Spitze ab. Er rief Klara höflich in sein Büro. Sie erschien höchst elegant mit einem koketten Verband und las neugierig den Vertrag durch, dem zufolge sie sich verpflichten sollte, noch vor der Zeugenladung nach Amerika abzureisen, wo ihr, außer einer einmaligen Schadensvergütung, durch fünf Jahre, vorausgesetzt, daß sie sich ruhig verhielte, am Ersten eines jeden Monats bei einem Lawyer eine bestimmte Geldsumme ausgezahlt werden sollte. Klara, die ohnedies wenig Lust hatte, nach diesem Skandal in Wien wieder Probiermamsell zu werden und außerdem von ihrer eigenen Familie aus dem Haus gewiesen war, überlas ohne Entrüstung die vier Folioseiten des Vertrages, rechnete rasch die Summe durch, fand sie überraschend hoch und schlug aufs Geratewohl noch eine Forderung von tausend Gulden dazu. Auch diese wurden ihr zugebilligt, und so unterschrieb sie mit einem raschen Lächeln den Vertrag, fuhr über das große Wasser und hatte ihren Entschluß nicht zu bereuen. Schon auf der Überfahrt boten sich ihr allerhand eheliche Möglichkeiten und bald eine entscheidende: im Boarding-house in New York lernte sie ihren van Boolen kennen, damals nur kleiner Kommissionär für ein holländisches Exporthaus, aber rasch entschlossen, mit dem kleinen Kapital, das sie einbrachte und dessen romantischen Ursprung er niemals ahnte, sich im Süden selbständig zu machen. Nach drei Jahren hatten sie zwei Kinder, nach fünf Jahren ein Haus, nach zehn ein stattliches Vermögen, das der Krieg, statt wie in Europa das Erworbene grimmig zu zerstampfen, auf jedem andern Kontinent damals üppig mehrte. Jetzt griffen schon zwei Söhne, herangewachsen und geschäftstüchtig, in dem väterlichen Maklerhause zu, so durften nach Jahren die beiden ältern Leute sich sorgenlos eine größere gemächliche Reise nach Europa erlauben. Und sonderbar: im Augenblick, da aus dem Nebel die flachen Ufer von Cherbourg sich vorschoben, in dem Blitzlauf einer Sekunde erlebte plötzlich Claire eine völlige Umstellung des Heimatgefühls. Längst innerlich Amerikanerin geworden, empfand sie bloß von der Tatsache, daß dieser Strich Land Europa war, einen unvermuteten Stoß Sehnsucht nach der eigenen Jugend: nachts träumte ihr von den kleinen Gitterbetten, in denen sie und ihre Schwester nebeneinander geschlafen, 10
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Rausch der Verwandlung
Title
Rausch der Verwandlung
Author
Stefan Zweig
Date
1982
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
204
Categories
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