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Schäferstunde in einem neueingerichteten Absteigequartier. Ohne weitere
Einleitung, toll vor Zorn, feuerte sie geradewegs auf die Ehestörerin zwei
Schüsse, von denen einer fehlging und der andere den Oberarm traf. Die
Verletzung erwies sich zwar als gänzlich unernst, sehr peinlich dagegen die
üblichen Begleiterscheinungen: herbeieilende Nachbarn, laute Hilferufe durch
zerschlagene Fenster, aufgesprengte Türen, Ohnmachten und Szenen, Ärzte,
Polizei, Tatbestandsaufnahmen und hinter allem, scheinbar unvermeidlich, die
Gerichtsverhandlung, wegen des Skandals gleichgefürchtet von allen
Beteiligten. Glücklicherweise gibt es für reiche Leute nicht nur in Wien,
sondern überall gerissene Anwälte, geübt im Verdunkeln ärgerlicher Affairen,
und ihr erprobter Meister, der Justizrat Karplus, bog sofort der Angelegenheit
die drohende Spitze ab. Er rief Klara höflich in sein Büro. Sie erschien höchst
elegant mit einem koketten Verband und las neugierig den Vertrag durch, dem
zufolge sie sich verpflichten sollte, noch vor der Zeugenladung nach Amerika
abzureisen, wo ihr, außer einer einmaligen Schadensvergütung, durch fünf
Jahre, vorausgesetzt, daß sie sich ruhig verhielte, am Ersten eines jeden
Monats bei einem Lawyer eine bestimmte Geldsumme ausgezahlt werden
sollte. Klara, die ohnedies wenig Lust hatte, nach diesem Skandal in Wien
wieder Probiermamsell zu werden und außerdem von ihrer eigenen Familie
aus dem Haus gewiesen war, überlas ohne Entrüstung die vier Folioseiten des
Vertrages, rechnete rasch die Summe durch, fand sie überraschend hoch und
schlug aufs Geratewohl noch eine Forderung von tausend Gulden dazu. Auch
diese wurden ihr zugebilligt, und so unterschrieb sie mit einem raschen
Lächeln den Vertrag, fuhr über das große Wasser und hatte ihren Entschluß
nicht zu bereuen. Schon auf der Überfahrt boten sich ihr allerhand eheliche
Möglichkeiten und bald eine entscheidende: im Boarding-house in New York
lernte sie ihren van Boolen kennen, damals nur kleiner Kommissionär für ein
holländisches Exporthaus, aber rasch entschlossen, mit dem kleinen Kapital,
das sie einbrachte und dessen romantischen Ursprung er niemals ahnte, sich
im Süden selbständig zu machen. Nach drei Jahren hatten sie zwei Kinder,
nach fünf Jahren ein Haus, nach zehn ein stattliches Vermögen, das der Krieg,
statt wie in Europa das Erworbene grimmig zu zerstampfen, auf jedem andern
Kontinent damals üppig mehrte. Jetzt griffen schon zwei Söhne,
herangewachsen und geschäftstüchtig, in dem väterlichen Maklerhause zu, so
durften nach Jahren die beiden ältern Leute sich sorgenlos eine größere
gemächliche Reise nach Europa erlauben. Und sonderbar: im Augenblick, da
aus dem Nebel die flachen Ufer von Cherbourg sich vorschoben, in dem
Blitzlauf einer Sekunde erlebte plötzlich Claire eine völlige Umstellung des
Heimatgefühls. Längst innerlich Amerikanerin geworden, empfand sie bloß
von der Tatsache, daß dieser Strich Land Europa war, einen unvermuteten
Stoß Sehnsucht nach der eigenen Jugend: nachts träumte ihr von den kleinen
Gitterbetten, in denen sie und ihre Schwester nebeneinander geschlafen,
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik