Page - 21 - in Rausch der Verwandlung
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der andern beim Nachhauseweg jede mit einem Mann gegen den Wald hin
abbiegen. Es ekelt sie. Uralt und müde, unnütz und überrannt fühlt sie sich
inmitten dieses gierigen und groben Nachkriegsgeschlechtes, unwillig und
unfähig, mit ihnen wettzueifern. Überhaupt: nur nicht kämpfen mehr, nur
nicht mehr sich mühen! Nur ruhig atmen, still vor sich hinträumen, seinen
Dienst tun, die Blumen gießen am Fenster, nichts wollen, nichts wünschen.
Nur nichts herausfordern mehr, nichts Neues, nichts Erregendes: selbst zur
Freude hat die Sechsundzwanzigjährige, um ihr Jahrzehnt Jugend durch den
Krieg bestohlen, keinen Mut mehr und keine Kraft.
Unwillkürlich seufzt Christine aus ihren Gedanken heraus. Schon das
Darandenken, an all das Grauenhafte ihrer Jugend, macht sie müd. Unsinn das
alles, was die Mutter angezettelt hat! Wozu jetzt von hier fort und zu einer
Tante, die sie nicht kennt, unter Menschen, mit denen sich Christine nicht
versteht? Aber mein Gott, was soll sie tun, die Mutter will’s und es macht ihr
Freude, so darf sie sich wohl nicht wehren: überhaupt, wozu sich wehren?
Man ist ja so müd, so müd! Langsam resigniert nimmt die Postassistentin aus
dem obern Fach ihres Schreibtisches einen Foliobogen, faltet ihn sorgfältig in
der Mitte, legt ein Linienblatt unter und schreibt sauber, klar, mit schönen
Haar- und Schattenstrichen an die Postdirektion in Wien, den ihr gesetzlich
zustehenden Urlaub sofort wegen einem Familienanlaß antreten zu dürfen und
um Entsendung einer Stellvertreterin von nächster Woche an. Dann bittet sie
noch die Schwester, ihr in Wien das Schweizer Visum zu besorgen, einen
kleinen Koffer zu leihen und herüberzukommen, um mancherlei wegen der
Mutter zu besprechen. Und in den nächsten Tagen bereitet sie alles langsam,
sorgfältig und genau für die Reise vor, ohne Freude, ohne Erwartung, ohne
Anteil, als gehörte dies nicht zu ihrem Leben, sondern zu dem einzigen, das
sie führt: ihrem Dienst und ihrer Pflicht.
Die ganze Woche ist gerüstet worden. Die Abende vergehen angestrengt
mit Nähen, Flicken, Putzen und Umbessern des alten Bestandes, außerdem
hat die Schwester, statt für die gesandten Dollars etwas zu kaufen – besser sie
aufsparen, meint die kleine ängstliche Bürgerin –, einiges ihrer eigenen
Garderobe geliehen, einen gelbgrellen Reisemantel, eine grüne Bluse, eine
von der Mutter bei der Hochzeitsreise in Venedig gekaufte Mosaikbrosche
sowie einen kleinen Strohkoffer. Das werde schon genügen, meint sie, im
Gebirge mache man keine Toilette, und was allenfalls Christine fehle, kaufe
sie besser an Ort und Stelle. Endlich kommt der Abreisetag. Den flachen
Strohkoffer trägt der Schullehrer des Nachbarortes, Franz Fuchsthaler,
eigenhändig zur Station, er will sich diesen Freundschaftsdienst nicht nehmen
lassen. Gleich auf die erste Nachricht ist der kleine schwächliche Mann mit
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik