Page - 22 - in Rausch der Verwandlung
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seinen hinter Brillen ängstlich versteckten blauen Blicken zu den Hoflehners
gekommen, um ihnen seine Hilfe anzubieten; sie sind die einzigen, mit denen
er in dem abgelegenen Weinbauernort Freundschaft hält. Seine Frau liegt seit
mehr als einem Jahr, von allen Ärzten aufgegeben, in der staatlichen
Tuberkuloseanstalt Alland, die beiden Kinder teilen auswärtige Verwandte in
Kost; so sitzt er fast allabendlich allein in seinen beiden ausgestorbenen
Zimmern und tut lautlos und mit viel bastlerischer Liebe kleine unscheinbare
Dinge. Er legt Pflanzen in Herbarien, kalligrafiert in Rondeschrift mit roter
Tinte die lateinischen, mit schwarzer die deutschen Namen unter die flach
getrockneten Blumenblätter, bindet eigenhändig seine geliebten ziegelroten
Reclamhefte in buntgemusterte Pappe und ahmt auf den Buchrücken mit
mikroskopischer Genauigkeit und einer ganz fein gespitzten Zeichenfeder
täuschend genau Drucklettern nach. Ganz spät, wenn er alle Nachbarn
schlafend weiß, spielt er, von selbstkopierten Notenblättern, ein wenig steif,
aber reichlich bemüht Violine, meist Schubert und Mendelssohn, oder
schreibt aus entliehenen Büchern die schönsten Verse und Gedanken auf
weiße zartgekörnte Quartbogen, die er, immer wenn die Hundertzahl erreicht
ist, zu einem neuen Albumheft mit Glanzpapier und einem bunten Schildchen
heftet. Wie ein arabischer Koranschreiber hebt er die zarten Rundungen, das
sachte und dann wieder mit starken Schlagschatten Ausschwingende der
Schrift um der stummen Freude willen, die lautlos und doch lebendig von
seiner innerlich gespannten Mühe ins Sichtbare übergeht: Bücher sind für
diesen bescheidenen, stillen, vegetativen Menschen, der keinen Garten
vor seiner Gemeindewohnung hat, die Blumen im Hause, und er liebt, sie im
Regal anzureihen zu bunten Alleen; mit einer altväterischen Gärtnerfreude
hütet er jedes einzelne, nimmt, wie man Zerbrechliches faßt, sie in seine
schmalen, blutarmen Hände. Nie betritt er das Dorfwirtshaus. Er haßt Bier
und Rauch mit der Angst der Frommen vor dem Bösen; hört er von außen
hinter einem Fenster die klobigen Stimmen von Streitenden oder Berauschten,
so geht er mit schnellen und erbitterten Schritten hastig vorbei. Die einzigen
Menschen, mit denen er seit der Krankheit seiner Frau Umgang pflegt, sind
die Hoflehners. Zu ihnen kommt er öfters nach dem Abendessen, um zu
plaudern oder – sie haben es gerne – mit seiner eigentlich trockenen, aber in
der Ergriffenheit musikalisch aufschwingenden Stimme aus Büchern
vorzulesen, am liebsten aus den ›Feldblumen‹ des heimatlichen Adalbert
Stifter. Seine schüchterne und etwas enge Seele fühlt sich dann immer
unmerkbar geweitet, wenn er, aufschauend vom Buch, das horchende und
gebeugte Blond des jungen Mädchens sieht; in der Art ihres innerlichen
Zuhörens fühlt er sich verstanden. Die Mutter merkt, was in ihm wächst und
daß er, sobald das unvermeidliche Schicksal seiner Frau sich erfüllt haben
wird, mit einem neuen und kühneren Sinn seinen Blick auf die Tochter richten
wird. Die aber, geduldig geworden, schweigt: sie hat längst verlernt, an sich
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik