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Rausch der Verwandlung
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seinen hinter Brillen ängstlich versteckten blauen Blicken zu den Hoflehners gekommen, um ihnen seine Hilfe anzubieten; sie sind die einzigen, mit denen er in dem abgelegenen Weinbauernort Freundschaft hält. Seine Frau liegt seit mehr als einem Jahr, von allen Ärzten aufgegeben, in der staatlichen Tuberkuloseanstalt Alland, die beiden Kinder teilen auswärtige Verwandte in Kost; so sitzt er fast allabendlich allein in seinen beiden ausgestorbenen Zimmern und tut lautlos und mit viel bastlerischer Liebe kleine unscheinbare Dinge. Er legt Pflanzen in Herbarien, kalligrafiert in Rondeschrift mit roter Tinte die lateinischen, mit schwarzer die deutschen Namen unter die flach getrockneten Blumenblätter, bindet eigenhändig seine geliebten ziegelroten Reclamhefte in buntgemusterte Pappe und ahmt auf den Buchrücken mit mikroskopischer Genauigkeit und einer ganz fein gespitzten Zeichenfeder täuschend genau Drucklettern nach. Ganz spät, wenn er alle Nachbarn schlafend weiß, spielt er, von selbstkopierten Notenblättern, ein wenig steif, aber reichlich bemüht Violine, meist Schubert und Mendelssohn, oder schreibt aus entliehenen Büchern die schönsten Verse und Gedanken auf weiße zartgekörnte Quartbogen, die er, immer wenn die Hundertzahl erreicht ist, zu einem neuen Albumheft mit Glanzpapier und einem bunten Schildchen heftet. Wie ein arabischer Koranschreiber hebt er die zarten Rundungen, das sachte und dann wieder mit starken Schlagschatten Ausschwingende der Schrift um der stummen Freude willen, die lautlos und doch lebendig von seiner innerlich gespannten Mühe ins Sichtbare übergeht: Bücher sind für diesen bescheidenen, stillen, vegetativen Menschen, der keinen Garten vor seiner Gemeindewohnung hat, die Blumen im Hause, und er liebt, sie im Regal anzureihen zu bunten Alleen; mit einer altväterischen Gärtnerfreude hütet er jedes einzelne, nimmt, wie man Zerbrechliches faßt, sie in seine schmalen, blutarmen Hände. Nie betritt er das Dorfwirtshaus. Er haßt Bier und Rauch mit der Angst der Frommen vor dem Bösen; hört er von außen hinter einem Fenster die klobigen Stimmen von Streitenden oder Berauschten, so geht er mit schnellen und erbitterten Schritten hastig vorbei. Die einzigen Menschen, mit denen er seit der Krankheit seiner Frau Umgang pflegt, sind die Hoflehners. Zu ihnen kommt er öfters nach dem Abendessen, um zu plaudern oder – sie haben es gerne – mit seiner eigentlich trockenen, aber in der Ergriffenheit musikalisch aufschwingenden Stimme aus Büchern vorzulesen, am liebsten aus den ›Feldblumen‹ des heimatlichen Adalbert Stifter. Seine schüchterne und etwas enge Seele fühlt sich dann immer unmerkbar geweitet, wenn er, aufschauend vom Buch, das horchende und gebeugte Blond des jungen Mädchens sieht; in der Art ihres innerlichen Zuhörens fühlt er sich verstanden. Die Mutter merkt, was in ihm wächst und daß er, sobald das unvermeidliche Schicksal seiner Frau sich erfüllt haben wird, mit einem neuen und kühneren Sinn seinen Blick auf die Tochter richten wird. Die aber, geduldig geworden, schweigt: sie hat längst verlernt, an sich 22
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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