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Rausch der Verwandlung
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Page - 92 - in Rausch der Verwandlung

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Mann an der Richtigkeit dieser Mitteilung. Von seiner phlegmatischen Gutmütigkeit war nichts zu befürchten, aber je mehr Claire verbürgerlichte, um so schreckhaft drohender wurde in ihr der Wahngedanke, irgendein einfältiger Zufall, eine unerwartete Begegnung, ein anonymer Brief könnten plötzlich die verschollene Geschichte an den Tag bringen. Deshalb vermied sie jahrelang mit zielbewußter Zähigkeit, ihren Landsleuten zu begegnen. Wenn ihr Mann ihr einen Wiener Geschäftsfreund vorstellen wollte, wehrte sie ab und weigerte sich, kaum sie flüssig englisch sprechen konnte, deutsch zu verstehen. Mit der eigenen Familie brach sie energisch jeden Briefwechsel ab, sandte auch bei den wichtigsten Anlässen nicht mehr als ein knappes Telegramm. Aber die Angst ließ nicht nach, im Gegenteil, sie wuchs mit dem bürgerlichen Aufstieg, und je mehr sie sich den amerikanisch strengen Sitten anpaßte, um so nervöser wurde die Angst, irgendein flüchtiger Schwatz könnte das böse Glimmen unter der Asche noch einmal ins Flammen bringen. Und es genügte, daß ein Gast bei Tisch erzählte, er habe lange Zeit in Wien gelebt, und sie schlief die ganze Nacht nicht, so heiß spürte sie den brennenden Funken im Herzen. Dann kam noch der Krieg, der mit einem Stoß alles Vordem in eine beinahe mythische und unerreichbare Zeit zurückdrückte. Die Zeitungen, die Blätter von damals vermodert, die Menschen drüben hatten andere Sorgen und Gespräche; es war vorbei, es war vergessen. Wie ein Projektil im Körper allmählich sich einkapselt im Gewebe – erst schmerzt es noch beim Umschlagen des Wetters, aber dann liegt es fühllos und nicht mehr so fremd im warmen Leib –, so vergaß sie dieses heikle Stück Vergangenheit in sorglosem Glück und gesunder Betätigung; Mutter zweier strammer Söhne, gelegentlich Mithelferin im Geschäft, gehörte sie dem Philanthropischen Verein an, war Vizepräsidentin der Gesellschaft für entlassene Sträflinge, in der ganzen Stadt hochgeachtet und geehrt; endlich konnte sich ihr lang zurückgestauter Ehrgeiz auch in einem neuen und von den besten Familien gern besuchten Haus ausleben. Das Entscheidendste aber war für ihre Beruhigung, daß sie schließlich selbst allmählich an jene Episode vergaß. Unser Gedächtnis ist bestechlich, es läßt sich von den Wünschen bereden, und der Wille, Feindliches von sich wegzudenken, übt seine langsam wirkende, aber doch schließlich ausschaltende Kraft; die Probiermamsell Klara war endlich gestorben in der makellosen Gattin des Baumwollmaklers van Boolen. So wenig dachte sie mehr an jene Episode, daß sie, kaum in Europa angekommen, sofort an ihre Schwester um ein Wiedersehen schrieb. Jetzt aber erfahrend, daß eine ihr unerklärliche Boshaftigkeit der Herkunft ihrer Nichte nachspürt, was liegt näher, als daß man gleichzeitig mit der armen Verwandten ihrer eigenen Herkunft nachfragt und sich mit ihr selber beschäftigt? Angst ist ein Zerrspiegelglas, jeder zufällige Zug wird an ihrer übertreibenden Kraft grauenhaft groß und karikaturistisch deutlich, und einmal aufgepeitscht, jagt die Phantasie auch den tollsten und 92
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Rausch der Verwandlung
Title
Rausch der Verwandlung
Author
Stefan Zweig
Date
1982
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
204
Categories
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