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Mann an der Richtigkeit dieser Mitteilung. Von seiner phlegmatischen
Gutmütigkeit war nichts zu befürchten, aber je mehr Claire verbürgerlichte,
um so schreckhaft drohender wurde in ihr der Wahngedanke, irgendein
einfältiger Zufall, eine unerwartete Begegnung, ein anonymer Brief könnten
plötzlich die verschollene Geschichte an den Tag bringen. Deshalb vermied
sie jahrelang mit zielbewußter Zähigkeit, ihren Landsleuten zu begegnen.
Wenn ihr Mann ihr einen Wiener Geschäftsfreund vorstellen wollte, wehrte
sie ab und weigerte sich, kaum sie flüssig englisch sprechen konnte, deutsch
zu verstehen. Mit der eigenen Familie brach sie energisch jeden Briefwechsel
ab, sandte auch bei den wichtigsten Anlässen nicht mehr als ein knappes
Telegramm. Aber die Angst ließ nicht nach, im Gegenteil, sie wuchs mit dem
bürgerlichen Aufstieg, und je mehr sie sich den amerikanisch strengen Sitten
anpaßte, um so nervöser wurde die Angst, irgendein flüchtiger Schwatz
könnte das böse Glimmen unter der Asche noch einmal ins Flammen bringen.
Und es genügte, daß ein Gast bei Tisch erzählte, er habe lange Zeit in Wien
gelebt, und sie schlief die ganze Nacht nicht, so heiß spürte sie den
brennenden Funken im Herzen. Dann kam noch der Krieg, der mit einem
Stoß alles Vordem in eine beinahe mythische und unerreichbare Zeit
zurückdrückte. Die Zeitungen, die Blätter von damals vermodert, die
Menschen drüben hatten andere Sorgen und Gespräche; es war vorbei, es war
vergessen. Wie ein Projektil im Körper allmählich sich einkapselt im Gewebe
– erst schmerzt es noch beim Umschlagen des Wetters, aber dann liegt es
fühllos und nicht mehr so fremd im warmen Leib –, so vergaß sie dieses
heikle Stück Vergangenheit in sorglosem Glück und gesunder Betätigung;
Mutter zweier strammer Söhne, gelegentlich Mithelferin im Geschäft, gehörte
sie dem Philanthropischen Verein an, war Vizepräsidentin der Gesellschaft für
entlassene Sträflinge, in der ganzen Stadt hochgeachtet und geehrt; endlich
konnte sich ihr lang zurückgestauter Ehrgeiz auch in einem neuen und von
den besten Familien gern besuchten Haus ausleben. Das Entscheidendste aber
war für ihre Beruhigung, daß sie schließlich selbst allmählich an jene Episode
vergaß. Unser Gedächtnis ist bestechlich, es läßt sich von den Wünschen
bereden, und der Wille, Feindliches von sich wegzudenken, übt seine langsam
wirkende, aber doch schließlich ausschaltende Kraft; die Probiermamsell
Klara war endlich gestorben in der makellosen Gattin des Baumwollmaklers
van Boolen. So wenig dachte sie mehr an jene Episode, daß sie, kaum in
Europa angekommen, sofort an ihre Schwester um ein Wiedersehen schrieb.
Jetzt aber erfahrend, daß eine ihr unerklärliche Boshaftigkeit der Herkunft
ihrer Nichte nachspürt, was liegt näher, als daß man gleichzeitig mit der
armen Verwandten ihrer eigenen Herkunft nachfragt und sich mit ihr selber
beschäftigt? Angst ist ein Zerrspiegelglas, jeder zufällige Zug wird an ihrer
übertreibenden Kraft grauenhaft groß und karikaturistisch deutlich, und
einmal aufgepeitscht, jagt die Phantasie auch den tollsten und
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik