Page - 93 - in Rausch der Verwandlung
Image of the Page - 93 -
Text of the Page - 93 -
unglaubhaftesten Möglichkeiten nach. Das Absurdeste scheint ihr plötzlich
wahrscheinlich; mit Entsetzen überdenkt sie, daß am Nachbartisch des Hotels
ein alter Herr aus Wien sitzt, Direktor der Handelsbank, siebzig oder achtzig
Jahre alt, der Löwy heißt, und mit einmal meint sie sich zu erinnern, die Frau
des verstorbenen Gönners habe mit dem Mädchennamen gleichfalls Löwy
geheißen. Wie wenn sie seine Schwester, seine Kusine gewesen ist! Wie leicht
kann sich der alte Mann (Greise erinnern sich ja geschwätzig gern an
Skandalgeschichten ihrer Jugendzeit!) mit irgendeiner Andeutung in den
Schwatz einmengen. Claire spürt plötzlich kalten Schweiß an den Schläfen;
denn die Angst arbeitet raffiniert weiter und suggeriert plötzlich, jener alte
Herr Löwy sehe jener Frau ihres Gönners auffallend ähnlich, dieselben
fleischigen Lippen, dieselbe scharf gebogene Nase – in dem
halluzinatorischen Fieber der Angst meint sie zweifellos zu wissen, er sei der
Bruder und selbstverständlich würde er sie erkennen, die alte Geschichte
ausführlich aufwärmen, Nektar und Ambrosia für die Kinsleys, Guggenheims,
und am nächsten Tag dann Anthony einen anonymen Brief bekommen, der
mit einem Riß dreißig Jahre ahnungsloser Ehe vernichtete.
Claire muß sich mit der Hand an die Lehne halten, eine Sekunde fürchtet
sie ohnmächtig zu werden; dann stößt sie sich mit der Energie der
Verzweiflung plötzlich vom Sessel auf. Es bedeutet eine Anstrengung, am
Tisch der Kinsleys vorbeizuschreiten und sie freundlich zu grüßen.
Vollkommen freundlich grüßen die Kinsleys mit dem stereotypen
Grußlächeln der Amerikaner, das sie selbst unbewußt längst gelernt hat,
zurück. Aber der Angstwahn Claires suggeriert ihr, sie hätten irgendwie
anders gelächelt, ironisch, bösartig, wissend, verräterisch, und selbst der Blick
des Liftboys ist ihr plötzlich unangenehm und das zufällig grußlose
Vorbeigehen des Stubenmädchens am Gang: erschöpft, als sei sie durch tiefen
Schnee gegangen, flüchtet sie endlich in die Tür.
Anthony, ihr Gatte, ist eben von der Siesta aufgestanden und kämmt sich,
die Hosenträger quer übergeworfen, den Kragen offen, die Wangen noch vom
Liegen zerdrückt, vor dem Spiegel den dünnen Scheitel.
»Anthony, wir müssen etwas besprechen«, keucht sie.
»Nun, was ist denn los?« Er zieht etwas Pomade durch den Kamm, um den
schmalen Scheitel geometrisch abzuteilen.
»Bitte, mach fertig.« Sie hält es vor Ungeduld nicht mehr aus. »Wir müssen
in Ruhe alles überlegen. Es ist etwas sehr Unangenehmes.«
Der phlegmatische, längst an das lebhaftere Temperament seiner Frau
gewöhnte Gatte, selten geneigt, sich an derlei Ankündigungen voreilig zu
ereifern, wendet sich noch immer nicht vom Spiegel zurück. »Ich hoffe, es
93
back to the
book Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik