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Rausch der Verwandlung
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unglaubhaftesten Möglichkeiten nach. Das Absurdeste scheint ihr plötzlich wahrscheinlich; mit Entsetzen überdenkt sie, daß am Nachbartisch des Hotels ein alter Herr aus Wien sitzt, Direktor der Handelsbank, siebzig oder achtzig Jahre alt, der Löwy heißt, und mit einmal meint sie sich zu erinnern, die Frau des verstorbenen Gönners habe mit dem Mädchennamen gleichfalls Löwy geheißen. Wie wenn sie seine Schwester, seine Kusine gewesen ist! Wie leicht kann sich der alte Mann (Greise erinnern sich ja geschwätzig gern an Skandalgeschichten ihrer Jugendzeit!) mit irgendeiner Andeutung in den Schwatz einmengen. Claire spürt plötzlich kalten Schweiß an den Schläfen; denn die Angst arbeitet raffiniert weiter und suggeriert plötzlich, jener alte Herr Löwy sehe jener Frau ihres Gönners auffallend ähnlich, dieselben fleischigen Lippen, dieselbe scharf gebogene Nase – in dem halluzinatorischen Fieber der Angst meint sie zweifellos zu wissen, er sei der Bruder und selbstverständlich würde er sie erkennen, die alte Geschichte ausführlich aufwärmen, Nektar und Ambrosia für die Kinsleys, Guggenheims, und am nächsten Tag dann Anthony einen anonymen Brief bekommen, der mit einem Riß dreißig Jahre ahnungsloser Ehe vernichtete. Claire muß sich mit der Hand an die Lehne halten, eine Sekunde fürchtet sie ohnmächtig zu werden; dann stößt sie sich mit der Energie der Verzweiflung plötzlich vom Sessel auf. Es bedeutet eine Anstrengung, am Tisch der Kinsleys vorbeizuschreiten und sie freundlich zu grüßen. Vollkommen freundlich grüßen die Kinsleys mit dem stereotypen Grußlächeln der Amerikaner, das sie selbst unbewußt längst gelernt hat, zurück. Aber der Angstwahn Claires suggeriert ihr, sie hätten irgendwie anders gelächelt, ironisch, bösartig, wissend, verräterisch, und selbst der Blick des Liftboys ist ihr plötzlich unangenehm und das zufällig grußlose Vorbeigehen des Stubenmädchens am Gang: erschöpft, als sei sie durch tiefen Schnee gegangen, flüchtet sie endlich in die Tür. Anthony, ihr Gatte, ist eben von der Siesta aufgestanden und kämmt sich, die Hosenträger quer übergeworfen, den Kragen offen, die Wangen noch vom Liegen zerdrückt, vor dem Spiegel den dünnen Scheitel. »Anthony, wir müssen etwas besprechen«, keucht sie. »Nun, was ist denn los?« Er zieht etwas Pomade durch den Kamm, um den schmalen Scheitel geometrisch abzuteilen. »Bitte, mach fertig.« Sie hält es vor Ungeduld nicht mehr aus. »Wir müssen in Ruhe alles überlegen. Es ist etwas sehr Unangenehmes.« Der phlegmatische, längst an das lebhaftere Temperament seiner Frau gewöhnte Gatte, selten geneigt, sich an derlei Ankündigungen voreilig zu ereifern, wendet sich noch immer nicht vom Spiegel zurück. »Ich hoffe, es 93
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
Weiteres Belletristik
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