Page - 102 - in Rausch der Verwandlung
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wohlfühlen, die warmen Bäder, und die Luft ist viel milder und … « Die
Tante redet weiter und weiter. Der schwierige Punkt ist überwunden. Sie hat
Christine sanft beigebracht, daß sie morgen wegfährt. Jetzt rollt alles wieder
leicht und locker im Geleise, sie erzählt und erzählt immer heiterer die
ausfälligsten Geschichten von Hotels und Reisen und von Amerika, und
Christine sitzt dumpf demütig und doch die Nerven gepreßt unter diesem
schrillen, krampfig gleichgiltigen Schwall. Wenn es nur schon zu Ende wäre.
Endlich nutzt sie eine kurze Pause. »Ich will euch jetzt nicht länger aufhalten.
Der Onkel soll sich ausruhen und auch du, Tante, wirst vom Packen müde
sein. Wenn ich dir vielleicht noch etwas helfen kann?«
»Nein, nein.« Die Tante steht gleichfalls auf. »Die paar Dinge packe ich
leicht allein. Aber auch für dich ist’s besser, du gehst heute früh zu Bett. Du
mußt ja, glaube ich, schon um sechs Uhr aufstehen. Nicht wahr, du bist nicht
böse, wenn wir dich nicht zur Bahn begleiten?«
»Nein, nein, das wäre doch übertrieben, Tante«, sagt Christine tonlos und
sieht zu Boden.
»Und nicht wahr, du schreibst mir, wie es Mary geht, gleich schreibst du
mir, wenn du ankommst. Und wie gesagt, nächstes Jahr sehen wir uns ja
wieder.«
»Ja, ja«, sagt Christine. Gott sei Dank, jetzt kann sie gleich gehen, einen
Kuß noch dem Onkel, der merkwürdig verlegen ist, einen Kuß der Tante, und
dann geht sie nur rasch fort, nur rasch fort! – zur Tür. Aber da, im letzten
Augenblick, sie hat schon die Klinke in der Hand, kommt die Tante hastig
nach. Noch einmal (aber es ist der letzte Hieb) hat ihr die Angst ihren
Hammer auf die Brust geschlagen: »Aber nicht wahr, Christl«, sagt sie
dringlich erregt, »du gehst jetzt wirklich gleich auf dein Zimmer, gehst
schlafen und ruhst dich aus. Nicht, daß du mehr hinuntergehst, weißt du,
sonst … sonst … sonst kommen morgen früh alle Leute von uns Abschied
nehmen … und wir haben das nicht gern … Es ist besser, man fährt einfach
weg ohne langes Hin und Her und schreibt dann lieber den Leuten paar
Karten … ich kann diese Blumenspenden und … Begleitereien nicht leiden.
Also nicht wahr, du gehst nicht mehr hinunter, sondern gleich zu Bett … nicht
wahr, du versprichst mir’s.«
»Ja, ja, natürlich«, sagt Christine mit letzter Stimme und zieht die Tür zu.
Und erst nach Wochen erinnert sie sich, daß sie beim Abschied vergessen hat,
den beiden auch nur ein einziges Wort des Dankes zu sagen.
Kaum die Tür hinter sich, verläßt Christine die mühsam
zusammengestraffte Kraft. Wie ein abgeschossenes Tier noch einige Schritte
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik