Page - 105 - in Rausch der Verwandlung
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die Halle ist hier immer so fürchterlich überheizt … « Nur erst beruhigen,
beruhigen, denkt er, und während er ihren Arm nimmt, tastet er wie zufällig
nach ihrem Handgelenk, um zu prüfen, ob sie Fieber habe. Nein, die Hand ist
eiskalt. Merkwürdig, denkt er mit gesteigertem Unbehagen, merkwürdige
Sache.
Vor dem Hotel schwanken grell und hoch die Bogenlampen, links steht
dunkel verschattet der Wald. Dort hatte sie gestern gewartet, und es ist wie
vor tausend Jahren, nicht eine Zelle in ihrem Blut erinnert sich. Er führt sie
sacht hinüber (nur lieber gleich ins Dunkel, wer weiß, was mit ihr los ist), und
sie läßt sich willenlos führen. Ablenken zuerst, überlegt er, ganz gleichgültige
Dinge reden, sich auf keine Konferenzen einlassen, nur so zufällig plaudern,
das beruhigt am besten.
»Nicht wahr, es ist viel angenehmer … nehmen Sie nur meinen Mantel
um … ah, eine wunderbare Nacht … sehen Sie die Sterne … eigentlich
Unsinn, daß wir immer den ganzen Abend im Hotel sitzen.« Aber die
Zitternde hört ihn nicht. Was Sterne, was Nacht, nur sich spürt sie, nur ihr seit
Jahren zusammengedrücktes, gepreßtes, unterdrücktes Ich, das plötzlich sich
riesenhaft im Schmerz aufbäumt und die Brust zersprengt. Und mit einmal, es
geschieht jenseits des Willens, packt sie grimmig seinen Arm.
»Wir reisen fort … morgen reisen wir fort … für immer fort … nie mehr
werde ich hierherkommen, nie mehr … hören Sie, nie mehr … nie mehr …
nein, ich ertrage es nicht … nie mehr … nie mehr.« Sie fiebert, fürchtet sich
der Ingenieur, wie es ihren ganzen Körper schüttelt, sie ist krank, ich muß
gleich einen Arzt verständigen. Aber mit wilden Muskeln klammert sie sich
in das Fleisch seines Arms. »Aber warum, ich weiß nicht warum … muß ich
so plötzlich weg … es muß etwas geschehen sein … ich weiß nicht was.
Mittags waren beide noch so gut zu mir und sagten kein Wort davon, und
abends … abends sagten sie mir, ich muß morgen wegreisen … morgen,
morgen früh … sofort, und ich weiß nicht, warum … warum ich so plötzlich
weg muß … so weg … so weg … wie man etwas aus dem Fenster wirft, was
man nicht mehr braucht, so … ich weiß nicht wie, ich weiß nicht … ich
verstehe es nicht … es muß etwas geschehen sein.«
Ach so, denkt der Ingenieur. Mit einmal ist ihm alles klar. Gerade vorhin
erst hat man ihm das Geschwätz zugetragen über die van Boolen,
unwillkürlich ist er erschrocken; beinahe hätte er ihr einen Heiratsantrag
gemacht! Aber jetzt begreift er, Onkel und Tante schicken die Arme Hals über
Kopf weg, damit sie ihnen weiter keine Unbequemlichkeiten mache. Die
Bombe ist explodiert.
Nur jetzt sich nicht mehr einlassen, überlegt er rasch. Ablenken! Ablenken!
Er versucht ein paar Allgemeinheiten, ach, das sei wohl nicht endgiltig,
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik