Page - 110 - in Rausch der Verwandlung
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der Hand, schleicht sichtlich verschämt wie ein Schatten zum Ausgang, ohne
sich bei ihm zu melden. Hallo, rasch springt er vor und sperrt mit drohender
Schulter die DrehtĂĽr.
»Wohin wünschen Sie, bitte?«
»Ich fahre fort mit dem Siebenuhrzug.« Der Portier sieht verblüfft: zum
erstenmal kommt ihm das unter, daĂź ein Gast, und gar Dame, in diesem Hotel
ihren Koffer sich selbst zur Bahn tragen will. Er wittert sofort Unrat und fragt:
»Darf ich … darf ich um die Zimmernummer bitten?«
Jetzt erst versteht Christine. Ach so – der Mann hält sie für eine
Einschleicherin – schließlich, er hat ja recht, was ist sie denn? Aber der
Verdacht erbittert sie nicht, im Gegenteil, sie empfindet irgendeine böse Lust,
in ihrem Frost noch gepeitscht, in ihrer Erniedrigung noch miĂźhandelt zu
werden. Macht es mir nur widrig, macht es mir nur schwer – um so besser!
Ganz ruhig antwortet sie. »Ich habe das Zimmer 286 gehabt auf Rechnung
meines Onkels, Anthony van Boolen, Zimmer 281, Christine Hoflehner.«
»Einen Augenblick, bitte.« Der Nachtportier gibt die Tür frei, aber behält
die Verdächtige (sie spürt es) im Auge, daß sie ihm nicht rasch wegpascht,
während er im Buch nachschlägt. Dann aber kippt plötzlich sein Ton um; eine
nervöse Verbeugung und sehr höflich: »Oh, gnädiges Fräulein, oh, bitte um
Verzeihung, ich sehe eben, der Tagportier war von der Abreise schon
verständigt … ich meinte, nur, weil es so zeitig sei … und dann … gnädiges
Fräulein werden doch nicht selbst den Koffer hinausnehmen, das Auto bringt
ihn zwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges. Bitte bemĂĽhen Sie sich doch in
das Frühstückszimmer, gnädiges Fräulein haben noch reichlich Zeit ein
Frühstück zu nehmen.«
»Nein, ich nehme nicht mehr. Adieu!« Sie geht hinaus, ohne sich
umzusehen nach dem verwundert starrenden und dann kopfschĂĽttelnd an sein
Pult wieder zurĂĽckgetretenen Mann.
Ich nehme nicht mehr. Das Wort tut ihr wohl. Nichts und von niemandem.
Den Koffer in der Hand, den Schirm in der andern, die Augen krampfhaft auf
den Weg geheftet, geht sie hin zur Bahn. Die Berge sind schon erhellt,
unruhig quälen sich die Wolken, im nächsten Augenblick wird das Blau
hervorbrechen, das göttliche, das so namenlos geliebte engadinische
Enzianblau, aber krankhaft gebĂĽckt starrt Christine nur auf den Weg: nichts
mehr sehen, nichts mehr sich schenken lassen, von niemandem, nicht einmal
von Gott. Auf nichts mehr einen Blick tun, nicht erinnert werden, daĂź von
jetzt für ewig diese Berge für andere sind, für andere die Spielplätze und ihre
Spiele, die Hotels und ihre spiegelnden Zimmer, die donnernden Lawinen und
die atmenden Wälder, und nichts davon mehr für sie, nie mehr, nie mehr! Mit
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik