Page - 114 - in Rausch der Verwandlung
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»Nichts … nichts … nur, ich glaube, ich bin zu müde. Ich kann jetzt nicht
sprechen. Ich kann nichts hören!«
Christine lehnt sich zurück und schließt die Augen. Sofort wird ihr wohler,
sobald sie ihn nicht mehr sehen muß, nicht mehr die tröstende weiche und
gerade durch ihre Demütigkeit so unerträgliche Stimme hören. Eine Schande,
denkt sie, er ist so gut zu mir, er opfert sich auf. Aber ich kann ihn nicht mehr
ansehen, nicht mehr ertragen, ich kann nicht. Nie diesen Menschen, nie solche
Männer wie ihn! Nie! Niemals!
Der Pfarrer litaneit sehr rasch an dem offenen Grab, denn der Regen fällt
senkrecht und dicht. Ungeduldig treten die Totengräber, die Schaufeln in der
Hand, im dicken Lehm von einem Fuß auf den andern. Der Guß wird immer
heftiger, der Pfarrer spricht immer schneller, endlich ist alles vorbei, beinahe
laufend und wortlos kehren die vierzehn Menschen, die die alte Frau zum
Kirchhof begleitet haben, ins Dorf zurück. Christine spürt mit einemmal
Grauen vor sich selbst, weil sie während der ganzen Zeremonie, statt
erschüttert zu sein, zwanghaft an winzige Widrigkeiten denken muß: daß sie
keine Galoschen an hat, voriges Jahr wollte sie welche kaufen und die Mutter
hatte gesagt, es sei nicht nötig, sie leihe die ihren. Daß Fuchsthalers
Mantelkragen, den er aufgestülpt hat, am innern Rand aufgerauht ist und
durchwetzt. Daß ihr Schwager Franz dick geworden ist und beim raschen
Gehen asthmatisch stöhnt, daß der Regenschirm ihrer Schwägerin zerrissen
ist, man müßte ihn überziehen lassen. Daß die Krämerin keinen Kranz
geschickt hat, sondern nur paar halbwelke Blumen aus dem Vorgarten, mit
Draht zusammengesteckt. Daß der Bäcker Herdlitschka eine neue Tafel in
ihrer Abwesenheit hat machen lassen – alles Gräßliche, Kleinliche, Widrige
der kleinen Welt, in die sie zurückgestoßen ist, dringt mit spitzen Widerhaken
in sie ein und quält so, daß sie kein Gefühl hat für den eigentlichen innern
Schmerz.
Vor ihrer Wohnung verabschieden sich die Trauergäste und laufen,
kotbespritzt und mit breiten Regenschirmen jetzt ganz ungehemmt ihren
Häusern zu: nur die Schwester, der Schwager, die Witwe des Bruders und der
Tischlermeister, den sie seitdem geheiratet hat, gehen zu ihr die knirschende
Treppe hinauf. Das Zimmer hat nur vier Sitzgelegenheiten, sie sind fünf: so
macht Christine den andern Platz. Ungemütlich eng und düster drückt der
Raum. Von den aufgehängten nassen Mänteln und tropfenden Schirmen riecht
es feucht und dumpf, an die Scheiben trommelt der Regen, leer und grau
wartet im Schatten das Bett der Toten.
Keiner spricht. Aus Verlegenheit sagt Christine: »Ihr werdet’s doch einen
Kaffee nehmen?«
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik