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Rausch der Verwandlung
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»Nichts … nichts … nur, ich glaube, ich bin zu müde. Ich kann jetzt nicht sprechen. Ich kann nichts hören!« Christine lehnt sich zurück und schließt die Augen. Sofort wird ihr wohler, sobald sie ihn nicht mehr sehen muß, nicht mehr die tröstende weiche und gerade durch ihre Demütigkeit so unerträgliche Stimme hören. Eine Schande, denkt sie, er ist so gut zu mir, er opfert sich auf. Aber ich kann ihn nicht mehr ansehen, nicht mehr ertragen, ich kann nicht. Nie diesen Menschen, nie solche Männer wie ihn! Nie! Niemals! Der Pfarrer litaneit sehr rasch an dem offenen Grab, denn der Regen fällt senkrecht und dicht. Ungeduldig treten die Totengräber, die Schaufeln in der Hand, im dicken Lehm von einem Fuß auf den andern. Der Guß wird immer heftiger, der Pfarrer spricht immer schneller, endlich ist alles vorbei, beinahe laufend und wortlos kehren die vierzehn Menschen, die die alte Frau zum Kirchhof begleitet haben, ins Dorf zurück. Christine spürt mit einemmal Grauen vor sich selbst, weil sie während der ganzen Zeremonie, statt erschüttert zu sein, zwanghaft an winzige Widrigkeiten denken muß: daß sie keine Galoschen an hat, voriges Jahr wollte sie welche kaufen und die Mutter hatte gesagt, es sei nicht nötig, sie leihe die ihren. Daß Fuchsthalers Mantelkragen, den er aufgestülpt hat, am innern Rand aufgerauht ist und durchwetzt. Daß ihr Schwager Franz dick geworden ist und beim raschen Gehen asthmatisch stöhnt, daß der Regenschirm ihrer Schwägerin zerrissen ist, man müßte ihn überziehen lassen. Daß die Krämerin keinen Kranz geschickt hat, sondern nur paar halbwelke Blumen aus dem Vorgarten, mit Draht zusammengesteckt. Daß der Bäcker Herdlitschka eine neue Tafel in ihrer Abwesenheit hat machen lassen – alles Gräßliche, Kleinliche, Widrige der kleinen Welt, in die sie zurückgestoßen ist, dringt mit spitzen Widerhaken in sie ein und quält so, daß sie kein Gefühl hat für den eigentlichen innern Schmerz. Vor ihrer Wohnung verabschieden sich die Trauergäste und laufen, kotbespritzt und mit breiten Regenschirmen jetzt ganz ungehemmt ihren Häusern zu: nur die Schwester, der Schwager, die Witwe des Bruders und der Tischlermeister, den sie seitdem geheiratet hat, gehen zu ihr die knirschende Treppe hinauf. Das Zimmer hat nur vier Sitzgelegenheiten, sie sind fünf: so macht Christine den andern Platz. Ungemütlich eng und düster drückt der Raum. Von den aufgehängten nassen Mänteln und tropfenden Schirmen riecht es feucht und dumpf, an die Scheiben trommelt der Regen, leer und grau wartet im Schatten das Bett der Toten. Keiner spricht. Aus Verlegenheit sagt Christine: »Ihr werdet’s doch einen Kaffee nehmen?« 114
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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