Page - 115 - in Rausch der Verwandlung
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»Ja, Christl«, sagt der Schwager, »was Warmes tat jetzt gut. Aber du
müßtest fix machen, denn lang’ können wir nicht bleiben, um fünf geht unser
Zug.« Jetzt, die Virginia im Mund, atmet er auf. Ein gutmütig jovialer
Magistratsbeamter, der schon als Trainfeldwebel im Krieg und noch eiliger im
Frieden sich vorzeitig ein Spitzbäuchlein zugelegt hat, fühlt er sich immer
unbehaglich außer in Hemdärmeln und bei sich zu Hause; während der
ganzen Zeremonie hat er mühsam ein Leichenbittergesicht aufgesetzt und sich
stramm gehalten, jetzt knöpft er den schwarzen Trauerrock, in dem er wie
verkleidet aussieht, ein bißchen auf und lehnt sich bequem im Sessel zurück:
»War doch gescheit, daß wir die Kinder nicht mitgenommen haben. Nelly hat
zwar gemeint, es gehört sich, sie müßten unbedingt beim Begräbnis der
Großmutter dabei sein, aber ich hab’s gleich gesagt, so was Trauriges soll
man Kindern nicht zeigen, sie verstehen’s eh noch nicht. Und dann
schließlich, es ist ja auch furchtbar teuer, das Hin- und Herfahren, eine ganze
Masse Geld, und bei diesen Zeiten… «
Christine reibt krampfhaft auf der Kaffeemühle. Fünf Stunden ist sie erst
zurück, und zehnmal hat sie’s schon gehört, »zu teuer«, das verfluchte,
verhaßte Wort. Fuchsthaler hat gemeint, es wäre zu teuer gewesen, den
Primarius vom St. Pöltener Spittel zu holen, er hätte ja ohnehin nichts richten
können, die Schwägerin hat’s vom Grabkreuz gesagt, man soll’s nicht aus
Stein bestellen, »zu teuer«, die Schwester von den Totenmessen und jetzt der
Schwager von der Fahrt. Unaufhörlich fließt und tropft es von allen über die
Lippen wie der Regen draußen über die Traufe und schwemmt alle Freude
fort. Täglich wird das jetzt wieder so tropfen und klopfen: zu teuer, zu teuer,
zu teuer! Christine zittert, mit böser Hand reibt sie ihren Zorn in die
knirschende Mühle: nur weg, nur weg, nur nichts mehr hören, nichts mehr
sehen! Die übrigen sitzen unterdessen in Erwartung des Kaffees still um den
Tisch und versuchen ein Gespräch. Der Mann, der die Witwe des Bruders
geheiratet hat, ein kleiner Tischlermeister aus Favoriten, sitzt bescheiden
geduckt unter den halben Verwandten, er hat sie gar nicht gekannt, die alte
Frau; zwischen Frage und Antwort holpert mühselig das Gespräch hin und her
und bleibt immer wieder stehen, als läge ein Stein im Wege. Endlich
unterbricht der Kaffee, Christine stellt vier Schalen hin – mehr hat sie nicht –,
dann geht sie wieder zum Fenster. Das verlegene Schweigen der Vier erdrückt
sie, dieses merkwürdig verhaltene Schweigen, das ungeschickt einen und
denselben Gedanken versteckt. Sie weiß, was jetzt kommen wird, sie fühlt es
in den Nerven, draußen im Vorzimmer hat sie gesehen, daß jeder zwei leere
Rucksäcke mitgenommen hat, sie weiß, sie weiß, was jetzt kommen wird, und
der Ekel schnürt ihr die Kehle zu.
Endlich beginnt der Schwager mit seiner gemütlichen Stimme: »So ein
Sauregen! Und die Nelly, vergeßlich wie sie ist, hat nicht einmal einen Schirm
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik