Page - 117 - in Rausch der Verwandlung
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Andenken an die Mutter behalten – die Uhr vielleicht oder wenigstens die
Ketten.«
»Nein«, sagt sie hart, »ich will nichts, ich nehm’ nichts. Ihr habt’s Kinder,
da hat’s einen Sinn. Ich brauch’ nichts – ich brauch’ überhaupt nichts mehr.«
Wie sie sich dann umdreht, ist schon alles vorbei, die Schwägerin und die
Schwester haben jede ihr Teil eingepackt und in die mitgebrachten Rucksäcke
geschoben – jetzt ist die Tote erst ganz begraben. Die Vier stehen herum,
betreten und etwas beschämt; sie sind froh, das peinliche Geschäft so rasch
und einverständlich erledigt zu haben, und doch ist ihnen nicht recht
behaglich. Man müßte jetzt, ehe der Zug abfährt, noch irgendwie was
Feierliches sagen, um die Erinnerung an das Geschäftliche zu verflüchtigen,
oder ĂĽberhaupt untereinander wie Verwandte sprechen. SchlieĂźlich erinnert
sich der Schwager und fragt Christine: »Na, du hast ja gar nichts erzählt, wie
war’s denn dort oben in der Schweiz?«
»Sehr schön«, stößt sie hart wie eine Messerklinge durch die Zähne.
»Das glaub ich«, seufzt der Schwager, »dort möcht’ unsereins auch einmal
hin, ĂĽberhaupt reisen! Aber das kann man sich nicht leisten mit einer Frau
und zwei Kindern, das wäre doch zu teuer, und schon gar in eine so noble
Gegend. Was kost’ denn in eurem Hotel dort ein Tag?«
»Ich weiß nicht«, atmet Christine mit letzter Kraft. Sie spürt, gleich werden
ihre Nerven reißen. Wenn sie nur schon weg wären, nur schon weg!
Glücklicherweise sieht Franz auf die Uhr. »Hallo, einsteigen, wir müssen zum
Zug. Aber Christl, keine überflüssigen Höflichkeiten, du brauchst uns nicht zu
begleiten, bei einem solchen Wetter. Du bleibst hier und kommst lieber
einmal nach Wien! Jetzt, wo die Mutter tot ist, heißt’s zusammenhalten!«
»Ja, ja«, sagt Christine ungeduldig fremd und begleitet sie nur bis zur Tür.
Die Holztreppe knirscht unter schweren Tritten, jeder trägt etwas weg auf den
Schultern oder in der Hand. Endlich sind sie doch fort. Kaum haben sie das
Haus verlassen, so reiĂźt Christine mit einem Ruck das Fenster auf. Der
Geruch erstickt sie, Geruch von kaltem Zigarettenrauch, schlechtem Essen,
nassen Kleidern, Geruch von Grauen und Sorge und Seufzern der alten Frau,
der gräßliche Geruch der Armut. Entsetzlich hier leben zu müssen, und wozu
und fĂĽr wen? Wozu das atmen Tag fĂĽr Tag und wissen, daĂź irgendwo auĂźen
eine andere Welt ist, die wirkliche, und in ihr selbst ein anderer Mensch, der
in diesem Dunst wie ein Vergifteter erstickt. Ihre Nerven beben und zittern.
Mit einem Ruck wirft sie sich angekleidet hin auf das Bett, die Zähne
verbissen in die Kissen, um nicht herauszuheulen vor hilflosem, brennenden
HaĂź. Denn mit einmal haĂźt sie alle und alles, sich selbst und die andern, den
Reichtum und die Armut, das ganze schwere unerträgliche und
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Rausch der Verwandlung
- Title
- Rausch der Verwandlung
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1982
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 204
- Categories
- Weiteres Belletristik