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Rausch der Verwandlung
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Andenken an die Mutter behalten – die Uhr vielleicht oder wenigstens die Ketten.« »Nein«, sagt sie hart, »ich will nichts, ich nehm’ nichts. Ihr habt’s Kinder, da hat’s einen Sinn. Ich brauch’ nichts – ich brauch’ überhaupt nichts mehr.« Wie sie sich dann umdreht, ist schon alles vorbei, die Schwägerin und die Schwester haben jede ihr Teil eingepackt und in die mitgebrachten Rucksäcke geschoben – jetzt ist die Tote erst ganz begraben. Die Vier stehen herum, betreten und etwas beschämt; sie sind froh, das peinliche Geschäft so rasch und einverständlich erledigt zu haben, und doch ist ihnen nicht recht behaglich. Man müßte jetzt, ehe der Zug abfährt, noch irgendwie was Feierliches sagen, um die Erinnerung an das Geschäftliche zu verflüchtigen, oder überhaupt untereinander wie Verwandte sprechen. Schließlich erinnert sich der Schwager und fragt Christine: »Na, du hast ja gar nichts erzählt, wie war’s denn dort oben in der Schweiz?« »Sehr schön«, stößt sie hart wie eine Messerklinge durch die Zähne. »Das glaub ich«, seufzt der Schwager, »dort möcht’ unsereins auch einmal hin, überhaupt reisen! Aber das kann man sich nicht leisten mit einer Frau und zwei Kindern, das wäre doch zu teuer, und schon gar in eine so noble Gegend. Was kost’ denn in eurem Hotel dort ein Tag?« »Ich weiß nicht«, atmet Christine mit letzter Kraft. Sie spürt, gleich werden ihre Nerven reißen. Wenn sie nur schon weg wären, nur schon weg! Glücklicherweise sieht Franz auf die Uhr. »Hallo, einsteigen, wir müssen zum Zug. Aber Christl, keine überflüssigen Höflichkeiten, du brauchst uns nicht zu begleiten, bei einem solchen Wetter. Du bleibst hier und kommst lieber einmal nach Wien! Jetzt, wo die Mutter tot ist, heißt’s zusammenhalten!« »Ja, ja«, sagt Christine ungeduldig fremd und begleitet sie nur bis zur Tür. Die Holztreppe knirscht unter schweren Tritten, jeder trägt etwas weg auf den Schultern oder in der Hand. Endlich sind sie doch fort. Kaum haben sie das Haus verlassen, so reißt Christine mit einem Ruck das Fenster auf. Der Geruch erstickt sie, Geruch von kaltem Zigarettenrauch, schlechtem Essen, nassen Kleidern, Geruch von Grauen und Sorge und Seufzern der alten Frau, der gräßliche Geruch der Armut. Entsetzlich hier leben zu müssen, und wozu und für wen? Wozu das atmen Tag für Tag und wissen, daß irgendwo außen eine andere Welt ist, die wirkliche, und in ihr selbst ein anderer Mensch, der in diesem Dunst wie ein Vergifteter erstickt. Ihre Nerven beben und zittern. Mit einem Ruck wirft sie sich angekleidet hin auf das Bett, die Zähne verbissen in die Kissen, um nicht herauszuheulen vor hilflosem, brennenden Haß. Denn mit einmal haßt sie alle und alles, sich selbst und die andern, den Reichtum und die Armut, das ganze schwere unerträgliche und 117
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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