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emotionsgeladenenEssays zu den ThemenBuch, LesenundKindheitslektüre er-
sichtlich, die sichmit der Rückwärtsgewandtheit zumkulturkritischen Zentralto-
pos verbinden.17 Die im 19. Jahrhundert sich unregelmäßig verbreitende und in
diffusenSchübenwachsendeLiterarisierunggelangte zuBeginndes 20. Jahrhun-
derts inÖsterreich-Ungarnvorläufig zumAbschluss.18Dernicht adäquat zuüber-
setzende Begriff ‚literacy‘, den Jürgen Osterhammel in seiner Studie verwendet,
bezieht sich auf ein breites, über die bloße Alphabetisierung hinausreichendes
Bedeutungsspektrum,
das vonderFähigkeit, eineUnterschrift unter eineHeiratsurkunde zu setzen,überdieGe-
wohnheit regelmäßigerLektüre sakralerTexteunddiePraxisprivatenBriefeschreibensbis
zuraktivenTeilnahmeamöffentlichen literarischenLeben reicht. [.. .] EinUmgangmitder
KulturtechnikdesLesens(undsekundärauchdesSchreibens),derdieTeilnahmeanweite-
ren Kommunikationskreisen als der Sprech- undHörgemeinschaft unter Anwesenden er-
möglicht. Wer lesen kann, wird zumMitglied einer überlokalen Öffentlichkeit. Zugleich
setztersichauchneuenMöglichkeitenderManipulationundFremdsteuerungaus.19
Schaukal reagierte ambivalent auf denWandel von der funktionalen Lese- und
SchreibfähigkeithinzueinerneuensymbolischenundsozialenBedeutung.Einer-
seitsmachteer sichdiemedialenund technischenNeuerungen fürdiekulturelle,
politischeoder literarischeVermittlungseinesSchaffensundzurSelbstpositionie-
rung innerhalb einer „imaginierten Gemeinschaft“ zu eigen.20 Andererseits wet-
terte er in kulturkritischenEssays gegendenFeuilletonismus, da dieser Literatur
undPressemeldungvermischenunddasBewusstseinfür literarischeKunstschwä-
chenwürde. Mitverantwortlich für eine negative soziokulturelle Entwicklung sei
vordergründigeinbereitsetabliertesMedium,dasabermitdemindustriellenFort-
schritt sowie infolgezunehmenderLiterarisierungundUrbanisierungum1900an
Attraktivität füreinebreitereMassegewann:dieZeitung.
17 EineÜbersichtüberSchaukalsLesegewohnheitenund -stoffegibtClaudiaWarum:Richard
vonSchaukalalsKritikerundÜbersetzerausdemFranzösischen.Diss.UniversitätWien, 1993,
Bd. 1,S.5–9.
18 Vgl. JürgenOsterhammel: Die Verwandlung derWelt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts.
München 2009, S. 1118.Weite Teile der Bevölkerungwaren zudiesemZeitpunkt des Lesensund
Schreibensmächtig, auchwennanzumerkenbleibt, dass bis zumEndederVielvölkermonarchie
der Literarisierungsgrad zwischenPeripherie undZentrumsowie zwischendeneinzelnen inden
Kronländern lebenden Ethnienweiter differierte; vgl. MartinMutschlechner: Die Gleichzeitigkeit
desUngleichzeitigen:AlphabetisierungalsGradmesser der Entwicklung. http://ww1.habsburger.
net/de/kapitel/die-gleichzeitigkeit-des-ungleichzeitigen-alphabetisierung-als-gradmesser-der-
entwicklung(zuletztaufgerufenam31. Juli2019).
19 Osterhammel:DieVerwandlungderWelt,S. 1117–1118.
20 Osterhammel:DieVerwandlungderWelt,S. 1118.
Einleitung:WiderspruchsgeisteinesBeamtendichters 7
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik