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Zu den Kritikpunkten der biographietheoretischen Debatten zählten in der
zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts der illusorischeAspekt vonBiographienund
dieFlüchtigkeit ihrerProtagonisten.LebensgeschichtensuggerierenWahrheit
und können den von ihnen aufgestellten Objektivitätsanspruch nicht einlö-
sen.DieGretchenfragederBiographieforschung lautet bis heute, ob sie gene-
rell über wissenschaftliches Potential verfüge. Die Lust am Aufdecken und
Eindringen indiePrivatsphäre erhebtdieBiographie zumbeliebtenVerkaufs-
undLeseprodukt,auswissenschaftlicherPerspektivewirdsieaber immerwie-
der als unseriöseGattungbezeichnet. Die große Zahl jährlich publizierter Le-
bensdarstellungen scheint die theoretische Infragestellung der Biographie zu
unterlaufen.Doch ist,wiebeianderenGattungenauch,zwischen trivialen,po-
pulärbiographischenWerkenzuunterscheiden,dieauchGegenstandderBiogra-
phieforschungseinkönnen,undwissenschaftlichambitioniertenProjekten.
Stellt sich ein biographisches Vorhabenwissenschaftlichen Ansprüchen, er-
öffnen sich unkonventionelle methodische Wege und Sackgassen. Neben der
FragenachdemWahrheitsgehaltvonBiographien istdiepolitische Instrumentali-
sierbarkeit einwesentlicherAspekt, denbereitsHelmut Scheuer in seiner ideolo-
giekritischenMonographie zum Thema grundlegend herausgearbeitet hat.76 Die
biographischePerspektive rückte inderFolgekritischerBiographieforschungvon
derhistorischenPersönlichkeiteinStückweitab.BiographiennahmenauchQuel-
len und ihre verborgenenSubtexte in denBlick. Seit demEndeder 1990er Jahre
zeichnet sich indenGeisteswissenschaftengleichzeitig einTrendzurEvidenzab,
der in aktuellenDiskussionen rund umden neuenRealismus fortgeführt wird.77
DerneueRealismusbautzwaraufKonstruktivismusundPoststrukturalismusauf,
siehtWahrheit jedochnichtalsabstraktenBegriffundüberlässtdiedamitverbun-
denenDiskurseauchnichtdenNaturwissenschaften.
76 Vgl. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zumWandel einer literari-
schenGattungvom18. JahrhundertbiszurGegenwart.Stuttgart 1979,vorallemS.158–166.
77 Vgl. zumBeispielManfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen
überSubjekt,PersonundIndividuumausAnlaß ihrer ‚postmodernen‘Toterklärung.Frankfurt
am Main 1986; sowie Hans Ulrich Gumbrecht: Die Rückkehr des totgesagten Subjekts. In:
FrankfurterAllgemeineZeitung, 7.Mai 2008, S.N3. ZumNeuenRealismusvgl.DerNeueRea-
lismus. Hg. vonMarkus Gabriel. Frankfurt amMain 2014; sowieMarkus Gabriel: Fünf Jahre
NeuerRealismus.WiderdiepostmoderneFluchtvordenTatsachen. In:NeueZürcherZeitung,
19. Juni 2016. Online: http://www.nzz.ch/feuilleton/fuenf-jahre-neuer-realismus-wider-die-
postmoderne-flucht-vor-den-tatsachen-ld.89931 (zuletzt aufgerufen am 31. Juli 2019); außer-
demMatthewB. Crawford: DieWiedergewinnung desWirklichen. Eine Philosophie des Ichs
imZeitalterderZerstreuung.AusdemAmerikan.vonStephanGebauer.Berlin2016.
1 Biographie:GattungundTheorieamBeispielRichardSchaukals 19
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik