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Herstellung vonWirklichkeit durchdas kulturelle GedĂ€chtnis bewirke âKohĂ€-
renzâ.Assmanngehtdavonaus,dassderĂbergangvonursprĂŒnglich rituellen
Mnemotechniken, die der Erzeugung undBewahrung vonKohÀrenz dienten,
auf textuelle Speichertechniken die Herausbildung von KohÀrenz destabili-
siert habe.111 Die Entwicklung von Schrift, die ausgelagerte Speicherung von
Schriftlichkeit (bis hin zuFestplatten)unddas expansiveEntstehenvonganz
unterschiedlichen schriftlichen Zeugnissen garantiere keineswegs mehr die
Tradierung ihrer Inhalte oder die Implementierung indas kulturelleGedÀcht-
nis. Somit sei ein Blockieren von Sinn imFluss der Traditionenâwie es der
Kanon vollziehtâ fĂŒr die Herstellung von textueller KohĂ€renz entscheidend.
Kurz: Die Entwicklung und VerÀnderung von Schriftlichkeit evozieren Reak-
tionenwiedieKanonisierung.
Klassikforschung und Kanontheorie verschmelzen in jĂŒngster Zeit zu einem
gemeinsamen Untersuchungsfeld. Sie rĂŒcken den auch fĂŒr die Biographik ent-
scheidendenProzessderHerstellungvonKanons sowiedie daranbeteiligtenAk-
teure indenForschungsfokus.Diese âAgentenâwirkenanderKanonbildungund
Klassikergenese gleichermaĂenmit.112 Die komplexe, dynamischeErzeugung von
KanonsundKlassikern istmitdemBlick indieVergangenheitverbunden.ZurĂŒck-
liegende literaturgeschichtliche ZeitrÀumewerden reduktionistisch geordnet, als
wertvoll erachtete Inhalte bewahrt unddabei auchpersonifiziert (Schaukals Zeit-
genossenbeginnen,vonder âGoethezeitâzusprechen).
Vor allemseit 1968 regte sichaber auf Seiten einer kritischenLiteraturwis-
senschaft Widerstand gegen die identitÀtsstiftende, repressive Funktion von
Kanons und gegen eine auf biographische GröĂe aufbauende KlassizitĂ€t.113
TheodoreZiolkowskiweist ineinerbegriffsgeschichtlichenEinordnungaufden
Umstand hin, dass Kritiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Begriff âTradi-
tionâ verwendeten, da âKanonâ pejorativ konnotiert gewesen sei.114 Das trifft
111 Vgl. JanAssmann:Das kulturelleGedÀchtnis. Schrift, Erinnerungundpolitische IdentitÀt
in frĂŒhenHochkulturen.MĂŒnchen1999,S. 52â53undS. 76.MauriceHalbwachshatdavorden
Zusammenhang von Erinnerung und ihrer sinnstiftenden Einbettung in einMilieu beschrie-
ben; vgl. Halbwachs: Les cadres sociaux de lamĂ©moire. Paris 1925. Als Beispiele fĂŒrweitere
ForscherinnenundForscher, die sichmit demThemabeschÀftigt habenbeziehungsweise be-
schĂ€ftigen, sind Aleida Assmann, Reinhart Koselleck, Henry Rousso und Paul RicĆur zu
nennen.
112 Robert Charlier und GĂŒnther Lottes: Vorwort. In: Kanonbildung. Protagonisten und Pro-
zessederHerstellungkultureller IdentitĂ€t.Hg.vonRobertCharlierundGĂŒntherLottes.Hanno-
ver2009,S.7â12,hierS.7.
113 Vgl. Theodore Ziolkowski: Zur Politik der Kanonbildung. Prolegomena zumBegriff einer
literarischen âKlassikâ inDeutschland(1800â1835). In:Kanonbildung,S.33â50,hierS.42â43.
114 Vgl.Ziolkowski:ZurPolitikderKanonbildung,S.41â42.
30 Einleitung:WiderspruchsgeisteinesBeamtendichters
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik