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schließlich in ein Familienalbumgeklebt. Das bildlicheMedium vermittelt einen
„RestgelebtenLebens“undverfügtüber„Präsenzqualität“ jenseitsdesTextes.16
2 BiographieundRetrophilie
Neben diesenmedialen Selbstinszenierungen griff Schaukal auch auf Diskurs-
strategien der Retrophilie zurück, um sich in das literarische Feld einzuschrei-
ben. Seine Rückwärtsgewandtheit war ebenfalls eine Form gelebter Praxis, um
Kapital fürdiePositionierung imkünstlerischenundpolitischenFeldzugenerie-
ren.DerBezugaufTraditionendrückt inersterLinie seinespezifischeMentalität
aus. Schaukal umgab sich nurmit Personen, die künstlerisch undpolitisch auf
Liniewaren, solchemitdifferierender Ideologiewurdengemiedenoderbaldaus-
geschlossen.ErmodellierteseinSozialkapitalundnahmdabeiVerlustevonsym-
bolischem Kapital in Kauf. 1910 versuchte Albert Ehrenstein (1886–1950), mit
dem arrivierten Kritiker in Kontakt zu treten. Als Schaukal nicht antwortete,
schrieb Ehrenstein erneut, diesmal mit der Bitte um Rücksendung seiner Ge-
dichte.Vier Jahre später kritisierte er inHerwarthWaldensZeitschriftDer Sturm
diedichterischeQualität Schaukals. Ehrenstein führtedessen „Stilsurrogat“dar-
auf zurück,dasser„sklavischundslawischpolymorph“ seiundalsÖsterreicher
ein „mixtumcompositum“.17 Die späte Retourkutschewar kein schwacherHieb
gegenSchaukal,dersichdochalsVerkörperungÖsterreichssah.
Mit der rückwärtsgewandten Utopie verfolgte Schaukal sowohl gesell-
schaftspolitischeals auchkulturkritischeZiele.AlsDichter, KritikerundBeam-
ter gehörte er zu den Verfechtern einer affirmativen Kultur, die sichmit dem
stabilisierendenRückgriff aufTraditioneneineErhöhungdergeistig-seelischen
Welt über die ‚kränkliche‘ Zivilisation erhofften.18 Zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts haben sich dieApologeten einer zweckfreienKunst, soHerbertMarcuse,
„ein Reich scheinbarer Einheit und scheinbarer Freiheit aufgebaut, worin die
antagonistischen Daseinsverhältnisse eingespannt und befriedet werden sol-
len.“19 Diese antagonistischen Verhältnisse wirkten im künstlerischen Feld
ebensostarkwie impolitischen.KulturundPolitik standen inRelation,wiedie
16 Fetz:DievielenLebenderBiographie,S. 5.
17 Albert Ehrenstein: Österreichische Prosa. In: Der Sturm, 5. Jg., Nr. 13–14 (Oktober 1914),
S.98–99,hierS.99.
18 Vgl.HerbertMarcuse:ÜberdenaffirmativenCharakterderKultur. In:Marcuse:Kulturund
Gesellschaft I.FrankfurtamMain1968,S.56–101,hierS.63.
19 Marcuse:ÜberdenaffirmativenCharakterderKultur,S.64.
2 BiographieundRetrophilie 57
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik