Page - 58 - in Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
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eskapistische Literatur oder die VernachlÀssigung sozialethischer Themen vie-
lerDichterderWienerModerneverdeutlichen.
Eine ganze Schriftstellergeneration beschwor vor allemnach 1918 die Ver-
gangenheit, um sich der topographischenwie literarischenHerkunft zu verge-
wissern und ein daraus ableitbares ZusammengehörigkeitsgefĂŒhl zu erzeugen.
DieVerbindungzwischenZeitundOrt,diedabeidemBegriffNostalgie inhÀrent
ist, wird in Schaukals Texten besonders deutlich. Claudio Magris datiert das
AufkommeneineshabsburgischenMythosaufdasEndederMonarchie,derMy-
thos istalso,wiedieNostalgie,eineEmpfindung,diesichrĂŒckwirkendentfaltet
und erst imDiskurs Gestalt annimmt.20 Die tatsĂ€chlicheRĂŒckkehr zu den vor-
maligenpolitischenwie sozialenVerhÀltnissenwirdnicht erwartet, derMythos
bleibt eine utopische Sehnsucht. Nostalgie bezeichnet auch das âUnbehagen
an der Gegenwartâ, eine âvon unbestimmter Sehnsucht erfĂŒllte Gestimmtheit,
die sich inderRĂŒckwendungzueiner vergangenen, inderVorstellungverklĂ€r-
ten Zeit Ă€uĂert, derenMode, Kunst, Musik o.Ă. manwieder belebt.â21 In The
Future ofNostalgiabeschreibt SvetlanaBoymNostalgie alsGeisteshaltung,wie
sie auch fĂŒr Schaukal nachdemEndederDoppelmonarchie bezeichnendwar,
alsâlonging forhomethatno longerexistsorhasneverexisted.â22
Nostalgie entwirft eineUtopie, ohnenotwendigerweisedie Zukunft imBlick
zuhaben.23 Sie soll kein exaktesAbbild vergangener Epochen sein, sondern ein
GefĂŒhlbeschwören.DementsprechendzĂ€hltdie idealisierteKindheitserinnerung
zu den wiederkehrenden Nostalgiekonzepten in Schaukals Texten,24 ein poeti-
schesSehnennachkindlichemGlĂŒck,dasauchbeiHofmannsthalwiederkehrt.25
Der 25-jĂ€hrigeSchaukal schlieĂt seineRezensionĂŒber FerdinandvonSaars
(1833â1906) Novellen mit dem Ausruf: â.. . glĂŒcklich, wer von uns seufzend
noch âDamals!â sagen kann.â Er entwirft darin einen literarischen lĂ€ndlichen
RĂŒckzugsraum, um dem stĂ€dtischen Literaturbetrieb und den geschmĂ€hten
Dichtern des âjungenĂsterreichâ (worunter er Jung-Wien verstand) zumindest
geistig zu entfliehen. Dabei verschweigt Schaukal nicht, dass auch er zu jenen
âgeschminkten, viel zu gedankenschweren, sehnensmĂŒden, Enterbtenâ gehöre
20 ClaudioMagris: Ilmito asburgico.UmanitĂ e stile delmondoaustroungariconella lettera-
turaaustriacamoderna.Torino1963.
21 [Art.] Nostalgie. In: DWDSâDigitalesWörterbuch der deutschen Sprache. https://www.
dwds.de/wb/Nostalgie (zuletztaufgerufenam31. Juli 2019).
22 SvetlanaBoym:TheFutureofNostalgia.NewYork2001,S.XIV.
23 Vgl.Boym:TheFutureofNostalgia,S.XIV.
24 Vgl. Girardi: Der Dichter Richard von Schaukal als âKonservatorâ der guten alten Zeit,
S. 290â291.
25 Vgl.UlrikeTanzer: Fortuna, Idylle,Augenblick.AspektedesGlĂŒcks inderLiteratur.WĂŒrz-
burg2011,S. 191â194.
58 I PoseundSubjektivierung imLebenRichardSchaukals
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik