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(wiederdasJungeWien),dieausdiesemGefĂŒhlherauseinemverlorengegange-
nenâEinstânachtrauern.26ObAntike,Mittelalter,Renaissance,Rokoko,Barock,
Romantik oder Biedermeier: Schaukal perfektionierte seine rĂŒckwĂ€rtsgewandte
Sehnsucht zueiner eigenen,produktivenTechnikdesâPasticheâ, zueinemâIn-
dividualstil des KĂŒnstlersâ, der historische Stoffe undMotive von der Malerei
auf die Literatur ĂŒbertrĂ€gt.27 Ebenso intermedial ausgerichtet sind seinebeiden
1907 erschienenen BĂŒcherGiorgione und Literatur, die sichmit verschiedenen
aktuellen und traditionellen Kunstformen auseinandersetzen. Ihre Dialogform
verweistaufdenzurZeitderRenaissanceblĂŒhendenParagone.
Nachdem Schaukal vor allem zu Beginn des ErstenWeltkriegs engagierte
Lyrikpublizierthatte,dasheiĂtbellizistischeGedichte inmartialischerDiktion,
dÀmpfte sich seineWortwahl in den ab 1915 veröffentlichten ErzÀhlungen, die
ahistorisch einem verklÀrten Kindheitsidyll nachhÀngen. Nach dem Ende der
Monarchie verstÀrkte sich die rÀumliche Komponente in Schaukals nostalgi-
schenGefĂŒhlsbekundungen.DieVerbindungslinienzumHeimatraumwaren in
erster Linie emotional gekappt worden, Schaukals Geburtsort BrĂŒnn lag nach
1918 in einemanderen Land, der Tschechoslowakei. EineRĂŒckkehr in denOrt
derHerkunft,KindheitundJugendwarnichtmehrmöglich.Das âheimeligeâGe-
fĂŒhl,wie er es in seinenErinnerungenanMĂ€hren schildert, kehrte sich inUn-
behagen, ins Unheimliche und verschob die Herkunftstopographie in einen
literarischenVergangenheitsraumoderErinnerungsort.28
Sigmund Freuds (1856â1939) AusfĂŒhrungen zum Unheimlichen (1919)
gehen der etymologischen Semantik diese Begriffs nach und zeigen anhand
vonE.T.A.Hoffmanns (1776â1822)DerSandmann (1816),wieetwasUrvertrautes
plötzlich als Unvertrautes wahrgenommen wird, gerade weil es ursprĂŒnglich
bekannt, familiÀr und heimisch war.29 Ein Àhnlicher Fall der Inversion war
BrĂŒnn, einst Schaukals Heimat, dannOrt des Un-Heimlichen. Der Erinnerung
an das Haus seiner Kindheit haftet ganz im Sinne Freuds eine schauerliche
Notean: âDasStammhaus, ausdem18. Jahrhundert, standdĂŒster, schmalund
26 Schaukal: Ferdinand von Saar. Ein Meister der Novelle. In: Das litterarische Echo, 2. Jg.
(1899),S. 1111â1115,hierS. 1114â1115.
27 ArianeMartin:WienerBarock. RĂŒckwĂ€rts gewandte Sehnsucht unddie TechnikdesPasti-
che als Individualstil in Richard Schaukals Gedicht âRococoâ. In: Eros Thanatos, Bd. 5â6
(2001/2002),S. 5â17,hierS. 13â14.
28 BrĂŒnn wurde âMĂ€hrisches Manchesterâ genannt und wies Ă€hnliche soziale Konflikte auf
wie die vielen anderen IndustriestĂ€dte. Schaukals ErinnerunganBrĂŒnn ist,wie seinBild von
Alt-Wien,einverklÀrtes Idyll.
29 Vgl. SigmundFreud: DasUnheimliche. In: Freud: Studienausgabe. Bd. 4: Psychologische
Schriften.Hg.vonAlexanderMitscherlichu.a.FrankfurtamMain1970,S. 241â274.
2 BiographieundRetrophilie 59
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik