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Mit Beginn des ErstenWeltkriegs verstärkten sich die antisemitischen Res-
sentiments.ZehntausendeJudenmusstenausGalizien,derBukowina,Polenund
denwestlichen Teilen Russlands in die Hauptstadt Österreich-Ungarns fliehen,
die sich infrastrukturell nicht nur nach SüdenundWesten, sondern auchnach
Norden und Osten ausgedehnt hatte. Ende des 19. Jahrhunderts wuchs das
StreckennetzderösterreichischenBahnenerheblichundreichtebis indieöstlich
gelegenenKronländer,68 aus denenvieleMenschenvornehmlich jüdischerKon-
fession nachWien gelangten. Zwar stellte die Judenfeindlichkeit zu jener Zeit
alles andere als ein neues Phänomen dar,69 doch sie verstärkte sich zu Beginn
des20. JahrhundertsaufgrunddemographischerFaktoren,politischerEreignisse
und der damit verbundenenWohnungsnot und Nahrungsmittelknappheit. Die
Ermordung des Industriellen, Schriftstellers und Außenministers derWeimarer
RepublikWalther Rathenau (1867–1922) ist eines der prominentesten Beispiele
fürdiekonkreteLebensgefahr,dersich imfrühen20. Jahrhundertpolitischenga-
giertePersonenmit jüdischenWurzelnausgesetztsahen.
Schaukal kleidete seinen Antisemitismus in kritische Worte gegen die
Kommerzialisierung der Kunst durch ungebildete Sammler, womit er die
neureichenMäzene des Industrieadels und das jüdische Bildungsbürgertum
gleichermaßenmeinte.70 Kunst unterliege seit derMitte des 19. Jahrhunderts
einem jüdischenund ökonomischenUngeist, so Schaukal, der sich Ende des
Jahrhunderts inderbürgerlichenMitte diffundiert unddort avantgardistische
Formenangenommenhabe.
Dieskorrespondiertmitderkontroversdiskutierten ‚Marginalisierungsthese‘.
Ausgehend von der sogenannten Surrogatfunktion der Kunst in der Wiener
Moderne, dieCarl Schorske inFin-de-siècleVienna:Politics andCulture (1979)
erstmals formuliert und ursprünglich auf alle gesellschaftspolitisch orientie-
rungslosen ‚Söhne‘ der liberalen Vätergeneration bezogen hatte,71 wurde diese
These dahingehend erweitert, dass vor allem junge jüdische Intellektuelle um
1900 auf das künstlerische Feld ausweichenmussten, da politischeundhöhere
gesellschaftlichePositionenfürsienurbegrenztoderüberhauptnichtzugänglich
68 Vgl. Richard Heinersdorff: Die K.u.K. privilegierten Eisenbahnen der Österreichisch-
UngarischenMonarchie1828–1918.Wienu.a. 1975,S.33–44undS. 165.
69 Brigitte Hamann: Hitlers Wien. München/Zürich 1998, vor allem S. 467–496, liefert in
einenübersichtlichen,aufnumerischeDatengestütztenAbrissüberdie ‚JudeninWien‘.
70 SiehezumBeispieldenDialogzwischendem ‚GebildetenunddemKünstler‘beiSchaukal:
GiorgioneoderGesprächeüberdieKunst.München/Leipzig1907,S. 1–82.
71 CarlE.Schorske:Fin-de-siècleVienna:PoliticsandCulture.NewYork1979.
70 I PoseundSubjektivierung imLebenRichardSchaukals
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik