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beeinträchtigt, die gerade auf dieser ideellen Kapitalsorte basierte. An Schaukal
lässt sichalsodieunterschwelligeAngstderbürgerlichen(undauchderadeligen)
AkteurevordemKorrodierendesBürgertumszeigen.WieKracauer inseinerempi-
risch StudieDieAngestellten (1930) darlegt, hatte sichnachdemKrieg ein ‚neuer
Mittelstand‘ entwickelt, eine ‚Angestelltenmasse‘ von hybrider Sozialstrukturmit
nicht eindeutiger Abgrenzung zu anderenGesellschaftsschichten.5 Das Beamten-
bürgertumderHabsburgermonarchiewarnachGründungderRepublikdemProle-
tariat gleichgestellt. Mit dem Verlust der verwaltungsintensiv betreuten
Kronländer realisierte sicheinegesellschaftlicheAngleichungderSchichten,die–
aus Sicht der Staatsbediensteten–mit umfassendemKapital- undPrestigeverlust
verbundenwar.
2 Distinktionsverhalten
AngesichtsdergesellschaftlichenundpolitischenVeränderungen im20. Jahrhun-
dert sah sichSchaukal alsomit einer Situationkonfrontiert, die seineKapitalsor-
tenzumindernoderganzzuentwertendrohte.Dabeiverkörpert er,wiemehrfach
betont, eine diffuse Phänomenologie des bürgerlichen Gesellschaftsstandes. Als
Schicht oder Klasse entzieht sich das Bürgertum generell einer klarenDefini-
tion. Die Sozialkategorie ‚Bürger‘ schließt sowohl den kaufmännischenKlein-
bürger als auch Vertreter des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums mit ein.
Herkunft, Einkommen und Berufsausübung waren um 1900 keine verlässli-
chenKriterienmehr für einegesellschaftlicheZuordnung.MitAbstrichen ließe
sich ein übergreifenderWertekodex und dermit Abstiegsangst gepaarte Auf-
stiegswille als gemeinsame Schnittmenge des Bürgerlichen festlegen. Jürgen
Osterhammel leitet aus diesem Zuschreibungsmangel ab, dass diejenigen als
Bürger bezeichnet werden könnten, die sich dafür hielten.6 Allerdings igno-
riert dieser Ansatz eine nicht geringe Zahl an bürgerlichenAkteuren, die Dis-
tinktionspraktiken anwendeten, um keinesfalls als bourgeoise Mitglieder der
Gesellschaft angesehen zuwerden.Das konnte sowohlVertreter desKleinbür-
gertumsals auchPersonenmit bildungsbürgerlichemAnspruchbetreffen, die
beispielsweise als Schriftsteller tätig waren. Dichtende, „nach oben deklas-
siertebürgerliche Intellektuelle“würdensichehermitdemDandytypus identi-
5 Vgl. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt am
Main 1930. – Alfred Weber machte dies bereits 1910 in seinem Aufsatz „Der Beamte“ zum
Thema; vgl.Weber: Der Beamte. In: Der goldene Schnitt. Große Essayisten der Neuen Deut-
schenRundschau1890–1960.Hg.vonChristophSchwerin.FrankfurtamMain1960,S.65–84.
6 Vgl.Osterhammel:DieVerwandlungderWelt,S. 1079–1081.
2 Distinktionsverhalten 83
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Title
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Author
- Cornelius Mitterer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Location
- Berlin
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 312
- Categories
- Weiteres Belletristik